Reisender, kommst D

Durchsonnte und farblich überhöhte Landschaften, aufsichtige mediterrane Gestade oder grün dampfende Dschungel, die salzige Macchiawrasen, begleitet von sanftem Wellenschlag, oder das Geschrei behände kletternder Äffchen und das schillernde Gefieder prächtiger Papageien im Geist evozieren.

Gebräunte Fesseln sind von meterhohen Azurbrechern umspült und die lachhaft gebleckten Gebisse disproportionaler Touristen machen gefrorene Miene, die Heiterkeit bezeichnet. Einem erregten Ausfallschritt muss unweigerlich ein kleiner Tsunami folgen und der kometengleich gen Weltall geschleuderte Kunststoffball wird einen Badeort fortwährend verfinstern, und vorgestellt, er würde nicht gefangen, sicher verheeren.

Es handelt sich um Plakatwände, die in den Städten aufgestellt sind, die dem Betrachter anbieten einzutreten in eine Wunderlandschaft, es den godzillahaft und photoshopdesaströs Dargestellten gleichzutun: in der schönsten Zeit des Jahres eines der letzten Paradiese spielerisch zu zertrampeln und ein Volk von Ausländerzwergen zu dominieren.

Diese werblichen Bilder pittoresker Paradiese oder vormoderner Kulturlandschaft sind gut aufgestellt und entfalten Wirkung vermittels einer Art Kakophonie der Kontraste, besonders im S-Bahnhof Westkreuz unten, wo Schmelzwasser an rostigen Armierungseisen hinabrinnt in ein müdes Bett aus staubigen Pet-Flaschen, Tampons und Einwegspritzen, wo eine räudige, mit verkrüppelten Füßen geschlagene Taube Kotze frisst und ein Clochard, dessen ganze Erscheinung wie geteert wirkt, gebetsmühlenartig scheinbaren Blindtext aufsagt.

Reklame löst ihr Versprechen nicht ein. Der Reisende weiß sehr gut, auch wenn er es aus sentimentaler Schrulle verdrängen mag, daß er den eigenen Abgründen auch durch fernste Fernreisen nicht entfliehen kann. Vor Ort verkehrt sich der Kontrast des Versprechens und wird den Reisenden unweigerlich hinabziehen in einen Malstrom der Depression.

Schöne Mädchen, deren schlanke Taillen feine farbintensive Seidenstoffe in Ethnooptik umspielen. Bald schreitet hier ein Gepard, bald flattert dort ein Kolibri und auch Früchte verbreiten ein Flair süßlicher, von Fliegen umbrummter Exotik. Es erschallen die naturgemäß lebhaften Rufe rassiger Südländer in den Gassen einer beliebigen Altstadt, die zum türkisfarbenen Hafen hinabführen. Im Mittelgrund legt ein weißes Schiff an, die Kapelle spielt ein reich instrumentiertes Musikstück und am jenseitigen Ufer, in nebligem Sonnenglast erheben sich ferne weiße Berge und eine filigran liegende Mondsichel erscheint dem Reisenden im roséfarbenen Blau, der sich zunehmend schäbig und matt fühlt wie Hans Castorp.

Säße ich doch hinter staubmatten Scheiben im Tunneleck unter der Autobahn, wird der Reisende denken, und tränke lauwarmes, kohlensäurearmes Kindlpils aus nikotinfilmklebrigen kleinen Tulpen an einem regnerischen Dienstagvormittag im März um elf Uhr dreißig, bei 2°C Außentemperatur und draußen würde umständlich ein blaßblauer japanischer Kleinwagen eingeparkt und auf BB-Radio liefe halblaut ein Titel von Andy Borg und bei Lidl wäre Mortadella im Angebot.

Der Geist des Menschen fließt aus ihm hinaus und erstarrt in seinem Umfeld mehr oder weniger gefügt zu Materie. An einem Gefälle zwischen Innen und Außen muss der an fremde Orte Geworfene erkranken, vor allem aber vor einer steilen Wand der Erhabenheit.

Zwei Wochen Schwedt an der Oder im November wäre eine Reise, die den Berliner gestärkt und geläutert zurückkehren ließe; bei Mikrowellenkost verlebt, im Erdgeschoss eines feuchten, nur noch von Skinheads und Zombies bewohnten Plattenbaus, gelegen an nordseitiger, feinstaubbelasteter Ausfallstraße nach Polen, wo rumänische Elendsprostituierte im fahlgrünen Licht von Nieselregenlampen in die miefigen Fahrgastzellen zahnloser, ungeduschter, speedabhängiger und adipöser Fernfahrer stiegen.



16. März 2010