Fremde in meinem Heim

Die Fenster standen offen und Schafe rupften im kniehohen Gras ihr frugales Mahl. Am gegenüberliegenden Gipfel hatte sich ein gestreckter Cumulusgupf gebildet. Wer dort ging, am Hang, an diesem Sonntag, der ging auf Preisselbeerkissen und unter einem kaiserblauen Himmel. Ich stand wohl in der Küche und tat, in Erwartung von Gästen, etwas ähnliches wie Gläser polieren, da hörte ich es dumpf und tierhaft brüllen von draussen und ein Poltern wurde vernehmlich, das auf einen Kampf hindeutete. Also trat ich vor das Haus und blickte aus dem Schutze eines Rhododendronstrauches gegen die Quelle des Lärmes: den benachbarten Dreiseithof. Eine Tür schwang jäh auf und ein Knäuel aus Fäusten wogte hervor. Von Besinnungslosigkeit und Hass geprägte Physiognomien wurden sichtbar, purpurn angelaufen und dämonisch verzerrt, daß ich an diese schauerlich gemeinten Holzmasken denken musste, die hier an bestimmten Feiertagen in Aufzügen gezeigt werden.
Guttural hervorgestoßene mundartliche Flüche hörte ich und musste das schrecklich entmenschte Hämmern von bäuerlichen Fäuste beobachten, die wieder und wieder auf gegnerische Köpfe einhieben, daß sich zwar Blut und Zahngries schmecken ließ, jedoch wider Erwarten keiner der Streithähne zu Boden ging. Plötzlich, wie ein Starenschwarm sich bald hierhin, bald dorthin massiert, ereignete sich ein Zurückwogen der Kontrahenten in das Innere des Hauses. Dort dann vernehmlich wiederholter Glasbruch sowie das dumpfe Schleifen eines offenbar schweren Leibes über die Dielen und schließlich eine Verlagerung der Kampfhandlungen gen Vorhaus. Eilig sauste ich die schön geschwungene Zirbenholzstiege des Haupthauses hinauf wie der Wind und blickte aus einem der dortigen Fenster leicht schräg auf den Vorplatz der nachbarlichen Liegenschaft herab. Wie erwartet wurde sehr bald die Haustüre mit großer Kraft aufgestoßen und ein neu konfiguriertes Knäuel aus Kämpfenden hervorgeschleudert, gleichsam auf die Straße hinauskatapultiert. Wahrlich ein Knäuel, ähnlich den Darstellungen in schlichten Cartoons, eine unscharfe Wolke aus Bewegung, kinetischer Energie und daraus hervorschnellenden Extremitäten. Auch mengte eine recht klein gewachsene grauhaarige Frau mit, die wiederholt Miene machte mittels eines Nudelholzes wuchtige, wohl vernichtend gemeinte Schläge auszuteilen, die jedoch nicht, oder nur in zu vernachlässigendem Maße die gewünschten gegnerischen Körperpartien trafen. Man beschimpfte sie eher nebenbei und so meines Erachtens besonders verächtlich als Hure.
Auf dem unteren, ostwärts gelegenen Fahrweg verstummte der Motor eines Porsche Cayenne und zwei metallene, in mattem moosgrün lackierte Türen wurden gemächlich geöffnet. Zwei Besucher erschienen. Das Beobachten des Heraufsteigens der Besucher über die Terrassentreppe aus glimmerhaltigem Schiefer seitens meiner Augen. W. in Begleitung einer jungen Frau, die mir als Kiki vorgestellt wurde und die mit mädchenhaftem Gestus einen koketten kleinen Knicks ausführte als ihr Name genannt wurde. Ich führte die Besucher in das östlichste Zimmer des Ostflügels – das Kaminzimmer. Kiki sank auf eines der Ledersofas nieder und fast noch im Sinken glitt aus einer Tasche ihres Kapuzenpullis, dessen Paspelnähte von zahllosen Waschgängen schütter und fransig geworden waren, ein schwarzes sogenanntes Smartphone in ihre schlanken Finger. W. lüpfte die Braue, schürzte seine Hose, nickte mir zu und nahm, die Beine überschlagend, am äussersten Ende des zweiten Chesterfieldsofas Platz. Auch hier standen die Fenster offen; eine Hummel schwankte träge herein und wurde von einem leichten Luftzug sanft durch ein anderes Fenster in einem anderen Raum hinausgetragen. Das Interieur war überzogen von den geometrischen Formen später Sonne, die im Raum flottierende Staubpartikel erglühen ließ wie Wolfram. Am Fuße von Kikis Sofa stand eine runde hellgrüne Korbtasche, die sich zu regen schien. Als ich dezent hineinblickte sah ich am Boden der Tasche ein Perlhuhn, das sich zusammengerollt hatte und – wohl träumend – wie konvulsiv bebend schlief. Die Riemchen der maronenfarbenen Pradasandalen, die Kiki nachlässig ausgezogen hatte und die nahe des Sofas zu Boden geglitten waren, warfen lange elliptische Schatten auf das Parkett wie das Sujet einer Photographie der zwanziger Jahre. Campari-O bitte, sagte Kiki und blickte kurz auf. Ich ging in die Küche um die jeweiligen Ingredienzien auf Eis zu schütteln; ein Collinsglas, zwei Tumbler. Da gewahrte ich am kleinen nördlichen Küchenfenster kurz eine Bewegung, das untere Drittel eines Mannes der die Straße hinaufging, ich sah schiefgelaufene schwarze Halbschuhe, einen Freizeitanzug und das Baumeln einer länglichen Tasche aus dunkelgrünem, fast schwarzem Nylon – das stark beriebene Logo von Weihrauch, die Tasche eines Jagdgewehres augenscheinlich; dann wieder das vertraute Stillleben aus verblühten Lupinen – die Schoten, die gegen Ende des Jahres oft leise im Wind klappern am Hang, den verhärmte Krüppelkiefern säumen.
Ich halte es für geboten, daß die Herrn stets solche Drinks nehmen, die auf derselben Basisspirituose beruhen, wie das von der Dame gewünschte Getränk: also Campari-O für Kiki und zwei Negronis für W. und mich. Den Negroni servierte ich mit Bombay Sapphire, krönte das Glas behufs Dekoration mit einem expressiven Gebilde aus Orangenzeste und karamellisierten Preiselbeeren, so ist er das ideale Getränk für einen warmen Oktobernachmittag. Mit einer geübten Bewegung hatte Kiki in die Korbtasche gegriffen, unter den Leib des erwachten Perlhuhnes, das nun benommen auf dem Boden zunächst taumelte, bald jedoch schritt und mit den kurzen Schwanzfedern einige Stäubchen Kaminasche verwirbelte. Ich reichte Kiki ihr Glas, sie nahm es und schlug die Augen nieder gegen das Display. Ihre Zehen waren sehr schlank, ebenmäßig und weiß, als seien sie aus Alabaster geschnitten. W. hob das Glas und trank, also trank auch ich. Kiki war in ihre Zerstreuungsmaschine versenkt und klopfte gelegentlich, wohl nervös mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand auf eine der leicht versenkt liegenden Ledernieten unweit ihrer Hüfte. Ich trug Crosstrainingschuhe von Adidas, Khakis von Yves Saint Laurent und einen zimmetbraunen Pullunder von Barbour, mit dem schon, an zwei unscheinbaren Stellen, die Motten Schindluder getrieben hatten.
W. sprach über ein mittelformatiges Waldseegemälde von Walter Leistikow, das er völlig unerwartet und schlecht reproduziert im Katalog eines Delfter Auktionshauses entdeckt und kurz darauf qua Internet ersteigert hatte und das er mir nun, sowohl das Dargestellte, als auch den Duktus der Maltechnik betreffend, minutiös beschrieb. Der Topos des Wassers, das Aufscheinen des Ophitischen in ihm. Vor einigen Jahren, W. war zu dieser Zeit an der Ostfront stationiert, habe W. Befehl erhalten hinter den feindlichen Linien eine Stellung im Gebiete des Kotal e Aq Rabat zu errichten. Im Schutze der Dunkelheit, angetan mit lediglich leichtem Marschgepäck und abgeblendeten Stirnlampen, habe er, dem Befehl gemäß begleitet von drei Kameraden, in karges Bergland aufsteigen müssen gen Bestimmungsort. Die zunehmende Höhe habe die Sinne getrübt, man meinte verschiedene Schüße gehört zu haben, die sich schließlich samt und sonders als aurale Schimären erwiesen hatten. Trocken seien die Kehlen gewesen wie Schleifpapiere und einer der W. begleitenden Soldaten habe sich auf die Knie fallen lassen und habe aus einem dünnen Rinnsal getrunken wie ein Tier. Diesem, dem Trinkenden, sei bald kalter Schweiß ausgebrochen, aschfahl sei er gewesen, so W. und er habe später über heftiges Leibreißen geklagt. Binnen zwei Wochen sei er tot gewesen, siechvoll verstorben, wie W. wiederholt betonte, siechvoll verstorben und als man den Leichnam in ein Feldspital brachte um ihn zu öffnen, seien dem jungen Obduzierenden, der gebürtiger Freiburger gewesen sei, wie W. erinnerlich gewesen war ein Dutzend junge Wasserschlangen entgegengeringelt. Verstehen sie? sagte W. und seine Hände waren in einer expressiven, nervlich aussergewöhnlich angespannten Geste des emporgespülten Leides erstarrt, siechvoll verstorben, wie der ganze Krieg dort unten, wie sich W. ausdrückte, ein einziges Siechtum gewesen sei und mutmaßlich andauernd siechvoll sei, bald noch mehr für die Lebenden in den Gräben, als für die Gefallenen, deren Siechtum ja so naturgemäß ein Ende gefunden habe mit dem gefallen sein. Ein Land auf dem kein Segen läge, sei Afghanistan. Daß das Wasser mit Schlangeneiern versetzt sei, und daß dieses versetzt sein des Wassers mit Schlangeneiern, mit Wasserschlangeneiern wie man sich denken könne, so W, nur das mildeste Indiz für dieses segenslose Siechtum sei undsoweiter. Kiki war unterdessen auf dem Boden gekauert und das Perlhuhn hatte matt an dem Zehnagel ihres linken kleinen Zehs gepickt, der von perlmuttenem Glanze war und somit das kontinuierliche Wirken eines Pedikeurs oder einer Pedikeurin mehr als wahrscheinlich werden ließ. Wie aufgrund einer augenblicklichen Kreislaufschwäche krängend erhob sich Kiki auf einmal und, kurz die Augen schließend, stapfte sie auf die Terrasse hinaus um sich dort eine Virginia Slim anzustecken und den exhalierten Rauch im Habitus einer ungenierten Frau in alle Winde auszustoßen. Das Perlhuhn war zögerlich, artgemäß hier und da pickend, mitgegangen und ruhte offenbar zu Kikis Füßen. W. und ich waren folglich alleine im Raum. Ich stand am Fenster zur Terrasse und wandte mich an W, ein Glas in Händen haltend, in dem Preisselbeeren schwammen, sie ist in mannbarem Alter, sagte ich sinngemäß, doch gebricht es ihr an gesellschaftlichem Schliff, du solltest sie auf eine Hauswirtschaftsschule schicken und in die Obhut eines guten Internats geben, das sie bildet und fein schleift in jeder Form. Internate, wie es sie in der Schweiz gibt oder, weit besser noch, in England wie du weißt. Ja, sagte W. und stellte sein Glas auf einen reich intarsierten Beistelltisch aus wilder Birne, das sollte ich wohl; ihr Betragen gibt oft Anlass zu Klagen, sie ist alles andere als gesellschaftsfähig, dabei ist sie von gutem Blute, hervorgegangen aus der Verbindung eines persischen Ingenieurs und einer exaltierten schwedischen Modedesignerin, die unter anderem für Vivienne Westwood arbeitete – aber die Erziehung, die Etikette! Seine Gesichtszüge waren hierbei geronnen, namentlich eine versteifte Oberlippe zeigte sich meinem Blicke. Kiki schob draussen mit den Füßen einen kleinen Berg aus Kieselsteinen zusammen und versuchte wohl, wie zur Illustration des Gesagten, auf den Gipfel dieses Gebildes zu speien. Ihr Kapuzenpullover war rostrot wie das Nadelwerk der Lärchen im Herbste. Über ihrer schwellenden Brust, gleichsam über ihrem jugendlichen Herzen war das sportlich geschnittene Baumwollgewand mit einem auffällig groteskem Y bestickt, einst war rechts daneben in gleicher Typographie die Zahl 3 appliziert gewesen, die jedoch – zweifelsfrei mit Bedacht und womöglich mit skalpellartig geschliffener Klinge – aufgetrennt und das so entstandene Fadengespinst spitzfingerig oder mittels einer Pinzette heraus praktiziert worden war.
Der Besuch hatte Worte des Abschieds geäußert und sich vor Behaglichkeit schnaufend in die hirschledernen Polster des stattlichen Geländewagens plumpsen lassen. Adieu also teurer väterlicher Freund, adieu Kiki, adieu auch unbekanntes Perlhuhn! Nunmehr konnte mein Geist sie nur erahnen als Lebewesen hinter schwarzem Verbundsicherheitsglas. Da erschallte das virile Aufraunen eines Ottomotors. Scheinwerfer, die in das dämonische Antlitz des Kühlergrilles eingelassen waren, erschienen und – wie es die Produktdesigner wohl vorgesehen und erhofft hatten – verblieb in mir kein Zweifel, daß dieses grimmig anmutende Fahrzeug in jegliches niederschlagsgesottene Flurstück vordringen würde, so der Wille des Lenkers es vorsähe. Als letztes dingliches Zeichen gewahrte ich einen verklausulierten Abschiedsgruß in Form eines ephemeren Blinzelns der Warnblinkanlage bevor sich das pferdestärkenreiche Gefährt wolllüstig in die zunächstliegende Kurve talwärts warf.
Das Haus lag still und plötzlich blickten die Fenster dunkel und unheimlich wie erkaltete Augenhöhlen nach dem Mahl von Aalen.
Ein letzter Nachklang des Besuches benetzte als olfaktorisches Konglomerat aus Habit Rouge und A scent zart meine an diesem Orte stets aussergewöhnlich perzeptiven Nasenschleimhäute.
Mit schwarzen Rössern gallopierte schon die Nacht und Schatten im Grünland flossen zusammen zu blauer Milch.
Bereits am Vortage hatte ich mir eine Ausziehleiter aus Aluminium bereitgestellt, wie auch eine Meuterwanne mit schwarzen Dachpfannen. Am Nebengebäude hatten Wasser und Frost mit den spitzen Mäusezähnchen der Physik an der einst trutzigen Keramik des Daches genagt. Ich stieg immer weniger bange ein ums andere mal die leichtmetallenen Sprossen hinauf, jeweils zwei Dachpfannen von Bramac in der linken Hand. Im oberen Drittel der Leiter angekommen, bot sich mir ungewöhnlicher Einblick in nachbarlichen Grund. Da hatte der Nachbar gegraben, der Gummistiefel trug, sowie einen speckerten Freizeitanzug von Le Coq Sportif und am Boden lag eine lehmige Schaufel aus dem unteren Consumersegment von Fiskars. Auch hatte der Nachbar Erlen umgeschnitten, die dort unten, wo der kleine Bach so munter springt, üppig und geil emporschießen wie ich weiß. Ein mittelgroßer Haufen Geäst lag also nestartig aufgeschlichtet und der Nachbar bemerkte mich schließlich gegen die sinkende Sonne, wie ich droben am Dache stand, kariöse Dachpfannenfragmente hinabwerfend und winkte mir freundlich zu und auch ich winkte etwas botmäßiger als angezeigt sowie meinen sicheren Stand am First preisgebend herab in den kühlen Grund an dem sich Igel und emsiges Gewürm in humosem Heim einmummeln werden, wenn der Winter kommt, oft Ende Oktober schon, doch bleibt vorerst nichts liegen weil ein Wind von Italien geht wie gesagt wird. So geht alles seinen Gang.



15. Januar 2012