Muren

Eine Vermurung hat stattgefunden, die den talseitigen Teil meines Grundes mit Vermurungsmaterial verlegte. Aus einem der oberen Fenster meiner Realität kann ich mir leicht einen Überblick über das verheerende Ausmaß des Schadens machen, den ich abgebrüht, sogar mit einem leichten melodiösen Summen, das meine Lippen umspielt, betrachte. Aha, eine Mure! Wieder einmal hat sich, wie ich es wohl einhundert, ja eintausend Mal in den Lokalnachrichten las, ein kleiner Wildbach zu einer tückischen Bedrohung gemausert. Alles Meldungen hinter denen sich tragische Einzelschicksale verbergen, wie man sagt. Müssig jetzt das angespülte mineralische Material mit der Größe von Tiereiern in Relation zu setzen. Zudem sind Vogeleivergleiche, so dünkt es mich jedenfalls, nur beim katastrophalen Einschlag von Himmelskörpern statthaft. Ich möchte es also dabei bewenden lassen, die Bestandteile, aus dem sich das mineralische Chaos zu meinen Füßen rekrutiert, vage mit den Ausmaßen von Sauriereiern in Verbindung zu bringen. Man möge mich falsifizieren!
Jedenfalls stößt mich die Faktenlage in eine eherne Rolle, in die Rolle des Bergbauern, eines Bergbauern dessen Scholle nichts abwirft außer einem gewaltigen Fehdehandschuh, die die Umwelt dem Liegenschaftseigner höhnisch in mannigfaltiger Gestalt präsentiert und vor dem es naturgemäß kein Entkommen gibt. Der Horrorfilm greift diesen Topos in gefälliger Form auf: ein Käufer erwirbt eine Realität zu einem vermeintlich günstigen Kaufpreis, sowie obendrein provisionsfrei. Die mystisch zugeraunten Hinweise eines verschrobenen Seniorens, daß das Objekt einst an Stelle eines Indianerfriedhofes aus dem Boden gestampft wurde, wird, ob des scheinbaren Hirngespinstes schmunzelnd, brüsk in den Wind geschlagen. Doch dann stellt sich allsbald heraus, daß Blut von der Decke tropft und hinter einer Wand aus Gipsbetonplatten uralte Wesen mit langen elfenbeinfarbenen Zähnen hausen. Präludium eines Kampfes auf Leben und Tod. So auch hier, in meinem entlegenen Alpenhochtal: die Idylle entpuppt sich als ein fortwährender Kampf, den die Natur mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln gegen den Menschen führt, wie einst jene pionierhaften, gleichsam bettelarmen Bergbauern, die naiv, aber mit kämpferischen Ambitionen auszogen, um der Todeszone ein schmales Auskommen abzutrotzen. An Allem nagen die Elemente, bald Kälte, bald Wasser, Wind, Schnee, Dürre usw. Auch gefällt es dem Herrn, wenn sich der Holzwurm der Bausubstanz bemächtigt oder gar ein Hausschwamm Domizil aufschlägt! Jetzt also Muren, na schön. Der jüngste Vorfall ließ für mich, nüchtern und ohne Wehklagen betrachtet, nur Eines evident werden: meine bergseitige Verteidigung lässt zu wünschen übrig, gegen die Straße und den Hochwald ist mein Grund geradezu ein Einfallstor für die morbiden und abgeschmackten Launen der Natur. Die Errichtung avancierter Wallanlagen ist angezeigt, keine zierlichen und steinbrechdurchsetzten Granitmäuerchen sind gewünscht, sondern trutziger Sichtbeton, der dem willkürlichen Treiben der Natur buchtsäblich einen Riegel vorschiebt. Sie sehen in mir wahrlich keinen Mann, der eine Bedrohungslage durch eine rosa Brille betrachtet oder der zu sentimentaler Beschönigung neigt, folglich werde ich auch nicht die Symptome einer ausgewachsenen Klimakatastrophe mit Glacéhandschuhen angreifen. Ein brutalistischer Profanbau schwebt mir vor, der in eintausend Jahren mit den Alpen zusammen im Meer versinken wird, der, am Rande bemerkt, auch eine ausgeprägte Kontrapunktik bilden wird zu der stifterschen Lieblichkeit, die mein Anwesen naturgemäß ohnehin ausstrahlt und der ferner ganz selbstverständlich auch die Möglichkeit von Panzerkrieg und Zombieapokalypse spielerisch mit einschließt, mit Wänden – deren Tiefe ein fiktiver Mann nur unter redlicher Mühe mit beiden Armen umklammern könnte – selbstverständlich überreichlich mit Armierungseisen durchsetzt, die, so sei es allemal designiert, etwa so umfangreich sein werden, wie der bulimisch wirkende Oberam einer Wiener Medienkünstlerin, mit der ich in einem Eisenbahnabteil ein Gespräch führte und die in Physiognomie und Habitus recht gut als Reinkarnation der jungen Gudrun Ensslin hätte durchgehen können. Bitte sehen Sie es mir nach, daß ich mich in diesem Punkt womöglich etwas versteige, da ich ja nie die Fortune hatte, die bekannte Terroristin einmal persönlich zu treffen…



10. Oktober 2012