Aus technischen Gründen

Als ich gestern auf die S-Bahn wartete, wurde der Zug mit dem ich zu reisen gedachte in Sichtweite des Bahnhofes von einer Betriebsstörung heimgesucht. Der in den Aushängen der Betriebsleitung beschriebene Fall war eingetreten; die Reisenden waren aus technischen Gründen genötigt auf offener Strecke auszusteigen und wurden von Bahnpersonal sicher zum Bahnsteig geleitet, was zugegebenermaßen nicht sehr schwierig war, da der Zug ja nur höchstens zehn Meter entfernt zum Stillstand gekommen war, nachdem er den offenbar durch mutwilliges Fremdverschulden beschädigten Gleiskörper überrollt hatte. Jedenfalls wurde die Bergung der Fahrgäste ruhig und in vollendeter Professionalität durchgeführt. An der Unglücksstelle selbst war der Bahndamm von jungen Birken und zahllosen Beikräutern reichlichst bewachsen. So standen nun Polizisten, neuerdings in hellblauen Sommerhemden, Techniker der Bahn, prophylaktisch verständigte Sanitäter und eine kunterbunte Schar von Reisenden, so wie sie nur der Zufall zusammenwürfeln kann, hüfthoch im jungen Grün. Klatschohn und Kornblumen in prächtigster Blüte, die schreienden Warnwesten der Rettungskräfte, ein kleiner schwitzender Mann mit Aktentasche, schlaksige, hochaufgeschossene Ausländer deren Teint ins olivgrüne spielte, eine junge Frau nebst Hund angetan mit resedafarbenem Sommerkleid, Kinderfahrräder mit langen, behufs Verkehrssicherheit installierten Fahnen, ein Tandem, Familienväter deren Haar schütter und grau geworden war unter der Last und natürlich die Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes, welche allerdings nur Maulaffen feilhaltend Zigaretten ansteckten und sich mit groben Pranken an ihren dicken Bäuchen kratzten. Wäre ich ein Künstler, hätte mich die Szene zu einem impressionistischen Ölgemälde inspiriert, drei mal sechs Meter vielleicht. Ein sinnvoll ineinandergreifendes Uhrwerks der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Lage stets vollkommen im sicheren Griff der durchweg besonnen handelnden Durchführungsberechtigten.

Geisseln möchte ich an dieser Stelle allerdings einmal die Mitarbeiter von privaten Sicherheitsdiensten, die bekanntlich weder für Sicherheit sorgen, zudem keine verlässliche Auskunft geben können, geschweige denn Englisch sprechen. Neulich wünschte ich an einer weigehend menschenleeren Station zuzusteigen, als sich, aus der sich öffnenden Türe des Zuges, zwei uniformierte Bierbäuche in den Weg schoben. Schnurrbärtige, mit Baretten versehene Kugelköpfe schnellten hervor, hündisch den Blick irgendeines Stationsvorstehers suchend, um jenem, in schmeichlerischer Absicht den Gruß zu entbieten. Es handelt sich bei diesen Typen leider ausnahmlos um Kroppzeug, da kann man nichts machen. Ausser vielleicht in eine Zeitmaschine setzen und in die Kaiserzeit beamen. Als Parkwächter oder Bahnschrankenwärter nach Ostpreussen.

Später am Nachmittag spielte ein einsamer Zigeuner, unten auf dem Rasen vor dem Hochhaus, eine melancholische Weise auf der Ziehharmonika. Was der Straßenmusikant so nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, daß speziell an der Westseite des Wolkenkratzers eine erhebliche Thermik, also einigermaßen turbulente Winde walten. In barmherziger Laune oder aus musikalischer Neigung hinabgeschleudertes Hartgeld würde unweigerlich zum Spielball des Luftzuges werden und kilometerweit fortgetragen werden, oder jedenfall zehn Meter — mindestens. Vergleichbar übel mitgespielt wird auch den Fliegen, die zahlreich an der Fassade umhergaukeln und dann vom Winde in die Wohnungen gespült werden. Die Tiere sind nicht sehr klug, sie lassen sich auf allem was zur Verfügung steht nieder in der irrigen Annahme, es handele sich um fliegengerechte Nahrung. Ein frisch angesetzer Eimer Fliesenkleber zum Beispiel. Im Nu hat sich eine Fliege in dem reifenden Zementgemisch verfangen und rudert wie toll mit den kleinen Beinchen — wohl das erste Nahtoderlebnis ihres kurzen Lebens. Bietet man dem Kerbtier einen rettenden Spachtel zum draufkriechen an, so vergehen schließlich nur Sekunden und das Insekt paddelt erneut hilflos in einem umherstehenden Limonadenglas oder prallt mit dem kleinen Haupte aus Chitin wiederholt gegen die Fensterscheibe. Nun ja, so hat es der Herr gefügt.



4. Juni 2007