Die Seehundbänke vor Norderney

Ich stehe achtern und es nieselt. Auf den Elbdeichen bewegen sich unscharfe Schafe im Nebel. Die Schiffsbegrüßungsanlage versieht scheppernd ihren Dienst. Eine Frau, die im frühabendlichen Nieselregen neben Einkaufswagen auf einer Bank sitzt, winkt nicht, hat vielmehr alle Extremitäten in einen verwobenen Kokon aus Decken, Pullovern und Daunenjacken gemummelt. Blankenese, schließlich das offene Meer. Meine Kabine erweist sich als einfach aber zweckmäßig und ist, ich muss mich wohl glücklich schätzen, eine Außenkabine, die, wie üblich mit einem Bullauge ausgestattet, freien Blick auf Küsten, Inseln und, so Gott will, Meeressäuger bieten wird. Ich packe meine Reisetasche aus und entnehme vor allem praktische, dem Maritimen gemäße Kleidung, also Ölzeug sowie einen entsprechenden Südwester und hänge alles ordentlich in den Spind. Diesmal habe ich an meine Schlafbrille gedacht! Die Kleiderbügel sind aus Merbau, wenn mich nicht alles täuscht, und wurden, wie das eingebrannte Signet des Hôtel La Ribaudière erkennen lässt, dortselbst aus einem Kleiderschrank entnommen. Mein Grundstock an formellerer Kleidung, ein dunkler, ein heller Anzug, nebst Hemden, Schuhen, Krawatten, Manschettenknöpfen und dergleichen können getrost in der entsprechenden Reisekiste aus Aluminium verbleiben, ebenso wie zunächst meine Bücher und die Instrumente. Es handelt sich um ein Frachtschiff, folglich wird es keine Gesellschaften geben, kein Kapitänsdinner und auch keine Kapellen oder andere kreuzfahrtrelatierte Zumutungen, die mich meiner Ruhe und Einkehr berauben und letztlich meine Studien beeinträchtigen, wenn nicht gar, wie es die Vergangenheit zeigte, gänzlich vereiteln. Über dem Auspacken ist die Nacht hereingebrochen. Die Nordsee ist ruhig, der Vollmond steht bevor. Es herrscht schwacher auflandiger Wind. Noch sind am Ufer gespenstisch erleuchtete Industriebetriebe zu erkennen (wohl Petrochemie), vereinzelt schießen Flammen empor. Später passieren wir steuerbordseits die Seehundbänke vor Norderney. Die meisten Tiere schlafen, nur eines, schließlich zwei heben träge die Köpfe, als die Lichter des Schiffes über ihre feisten Leiber streichen, die anmuten wie nachlässig arrangierte, gleichsam überdimensionierte Blutwürste auf einer kalten Platte, wie sie bei Arbeiterfesten bereitgehalten werden.



6. März 2012