Auf hoher See

Ich ernähre mich im wesentlichen von getrocknetem Fisch, Zwieback und Äpfeln, versorge mich also leidlich selbst. Gegen einen kleinen Obolus erbitte ich mir in der oberen Kombüse gelegentlich gekochten Reis.

Selbstverständlich haben wir längst den Ärmelkanal passiert – hier schöne Blicke zu den südenglischen Kreidefelsen, die unter komplexen Wolkengetümen im Abendlichte lagen – und befahren jetzt das östliche Atlantikbecken. Die Meeresoberfläche wogt nun stärker. Nachts wenn der ohnehin auch am Tage schneidende Nordwest auffrischt, bewegt sich unser Schiff lebhaft und ich bin froh an die Reling oder mein Bullauge treten zu können um mich der Existenz einer Horizontalen zu vergewissern und aufkeimende Blümeranz niederzuringen. Die letzten Tage sind ein Elend: allweil grau und Regen und Gischt fährt einem mit Macht ins Gesicht. So trüb also, daß selbst die Konturen der gestreckten Hand zu verblassen scheinen. Auch die Seevögel sind zurückgeblieben, die das Schiff kreischend, scheinbar selten mit den Flügeln schlagend, segelnd begleiteten bis zu einem Punkt weit jenseits der Zwölf-Meilen-Zone. Hellgraue Silhouetten, die vor einem dunklen Osthimmel standen und langsam kleiner wurden – Stille dann, das Rauschen natürlich, das ewige Rauschen des Meeres.

Meine Kabine liegt auf gleicher Ebene wie die Brücke, ebenso die Kajüte des ersten und zweiten Kapitäns sowie die Messe. Trete ich vor meine Kabine, so stehe ich auf einer Art Galerie und kann über ein Geländer das Zwischendeck einsehen auf dem sich die Matrosen bewegen, leben und ihre Arbeit versehen. Die verschiedenen Decks sind, wenigstens bei Nacht, mittels abgesperrter Türen voneinander getrennt. Ich muß bei diesem Aufbau an ein Gefängnis denken, auch weil die Brücke ein Ort der Allschau ist, zur einen Seite das Meer, zur anderen Seite das Geschehen auf dem Zwischendeck – alle Gänge, Treppen, Türen.

Einmal, als draussen der Nebel allzu arg kochte, stieg ich eine der steilen, grün lackierten Metalltreppen hinab. Das stets präsente hypersonore Geräusch der Maschine drang mit mehr Detail und schärferer Modulation an mein Ohr. Mir begegneten Matrosen in bunten Trainingsanzügen, häufig mit weißen Socken und Badelatschen bekleidet, die wohl, der Aufzug legt es nahe, Freiwache hatten. Klare Augen, aber auch Augen, in denen Tücke und Stumpfsinn oszilliert. Man beachtet mich nicht, was mir ganz recht ist.

Nach Sonnenuntergang in der unteren Messe, aus schierer Neugier. Ein Getränkeautomat, Neonröhren und Matrosen, die Bacardi mit 7Up trinken. Im wesentlichen Engländer, Polen und vereinzelte Asiaten. An der Decke hängt ein Flachbildschirm, es läuft ein Erotikfilm ohne Ton. Ich sitze an einem resopalbezogenem, am Boden festgeschraubtem Tischchen, darauf englische Motorsportmagazine und zwei neuere Ausgaben des deutschen Playboy. Ich blättere ein wenig, lese ein Interview mit Karl Lagerfeld und lege das Magazin dann zurück.

Einer der Matrosen ist aufgestanden, schwankt leicht, andere stehen mit ihm auf, ein Stuhl kippt um. Da verlasse ich die untere Messe, steige die Treppen hinauf, in meine Kabine, in mein Bett und lese dort in den Tagebüchern von Stendhal.



9. März 2012