Die Katarakte

Ich blicke hinauf in ein grünes Dach aus Blättern bald jeglicher Form, von denen in dampfigen Schleiern das Kondenswasser rinnt, in ein Wirrwarr aus Zweigen und Stämmen und modriger Borke, an die sich scharlachrote Orchideen schmiegen und hellblaue Baumfrösche, die dort reglos verharren, dies wiederum von sehnsüchtig tastenden Luftwurzeln umfangen, natürliches Medium behänden Kletterns, ja tollkühnster Sprungakrobatik mitunter winziger Waldaffen. Es ist eine außergewöhnlich wilde Landschaft, die sich da vor mir so erhaben und zerklüftet auftürmt; von feinsten Nebeln umflorte, droben bedrohlich, wohl auch unterirdisch tosende, drunten nahezu lieblich über schlüpfriges Wurzelwerk plätschernde Katarakte, an denen sich zierlich gefiederte Vögel tröpchenweise schadlos halten. Eine leichte Brise rührt die äußeren Blätter des Urwaldes, daß ein Strahl Sonne hindurchblinzelt durch die feuchte Luft und Papageien unter gellendem Gekreisch aufstieben lässt, daß eine purpurrote Feder mit eisblauen Einsprengseln langsam und zugleich turbulent hinuntertrieselt. Doch Obacht! Plötzlich schießt eine mir bis dato unbekannte kindskopfgroße Steinfrucht von eigenartig ledriger Beschaffenheit schrapnellartig pfeifend aus höchsten Höhen herab, um knapp einen Meter von mir entfernt, mit augenscheinlich erheblicher Wucht in den Boden einzuschlagen, der, da von sumpfiger Natur, sich alsbald blasenwerfend über der Einschlagstelle schließt.

Er unterschätzte die Gefahren romantischer Naturbetrachtung – um ein Haar hätten die Meinigen den Steinmetz anweisen können dies – (möge es einst die Walbaum-Fraktur sein!) – in meinen Grabstein zu hauen.

Ich hatte hier, dem mir vorliegenden, diese versunkene Welt vorstellenden kartographischen Stahlstich einmal mehr Glauben schenkend, der wenngleich, wie die Erfahrung gelehrt hatte, mehr dem künstlerischen Ausdruck des Stechers, denn der wissenschaftlichen Vermessung des Raumes verpflichtet war, meine Piroge verlassen müssen, da der Katarakt, die Katarakte, wie man sagen muss, ein weiterreisen zu Wasser zweifelsfrei verunmöglicht.

Die Luft ist durchschwirrt von blutdürstigen Kerfen, die, zu gierigen Wolken kumuliert, sogleich jeden vakanten Quadratzentimeter Haut behufs Blutmahl requirieren. Auch sinke ich sukzessive in ein Wasserloch hinein, das sich durch mein müßiges Verharren unter meinen Sohlen gebildet hat. Bereits bis zur Hälfte des Unterschenkels stehe ich in humidem Sediment aus dem bräunliche Blasen aufsteigen, das, so lauten die einhellig in den Missionen mit bedrohlichem Timbre vorgebrachten Warnungen, nicht eben selten Domizil giftiger Sumpfskorpione sein kann. Mein Einsinken wird zweifelsohne auch dadurch beschleunigt, daß mein gesamtes Reisegepäck, das sich namentlich aus Büchern, einer photographischen Ausrüstung und Instrumenten rekrutiert und welches nur das allernötigste Quantum an Leibwäsche beinhaltet, fortan auf meinen Schultern lastet. Nicht zu vergessen mein getreues Fahrrad der Marke Steyr, das mir zwar im Moment, angesichts des mich umfangenden, trotz aller augenscheinlichen Schönheit tatsächlich unwirtlichen Geländes, mit Verlaub mehr Ballast denn Vehikel zu sein scheint, von dem ich jedoch aus einer emotionalen Schrulle heraus nicht lassen kann, da mich das Fahrrad stets wehmütig an den Tag der Abdankung des Kaisers denken lässt, das ich also durch Morast und Unterholz zu tragen mich gezwungen sehe, als hätte es mir der Herr höchstpersönlich auf die Schultern gelegt um mich zu prüfen. Ich bin jetzt in meinem siebenunddreißigsten Jahr und, einmal einiger stets ohne nennenswerte Komplikationen abgehender, folglich unbedeutender Blasensteine ungeachtet, bei gleichbleibend guter Gesundheit – dem Herrn gefällt es offenbar mich auf diesem Weg zu sehen.



16. Juni 2012