Semmering III
Durch das von Metallfäden durchzogene Sicherheitsglas sah ich, wie Tristan, der Butler, einen Schalter betätigte und hörte, wie ein alter Schrittmotor die mattschwarze Eingangstür malmend zu öffnen begann. Tristan blickte mir kurz und fest in die Augen; ich nahm einen gut konturierten Menjoubart als Punktum seines Gesichtes wahr. Er küsste zum Gruße meine Wangen, wie es Sitte war, und ging sodann leitend vor mir durch schummerige Gänge und durch brutalistische Treppenhäuser. Architektur, die ich seit Ewigkeiten zu kennen meinte und die für Tausende konzipiert war. Daß die Wände zunehmend durch cyanfarbene Neonröhren rhythmisiert wurden, präludierte – wenigstens in meiner Wahrnehmung – die Nähe bewohnter Teile des ehemaligen Flakturms. Neon, das aus Einschusslöchern bläulich herausgleißte, Risse und Übergänge akzentuierte. Neon, das en passant an Gegenständlichkeit gewann, graphische Repräsentationen ausbildete, schließlich Buchstaben, Worte, Binärcode und Satzfragmente. Mir sind Zitate aus dem Hyperion erinnerlich geblieben. Wir traten in einen tiefen, fensterlosen, somit düsteren und porphyrverkleideten Raum, von vielleicht zehn auf zwanzig Meter, der im vorderen Teil durch eine amorphe Bleiskulptur von Anselm Kiefer dominiert wurde. Tristan bedeutete mir, in einer Reihe von Barcelona-Sesseln Platz zu nehmen, Walter sei noch beschäftigt. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich in einiger Entfernung die Silhouette von Walter, der sich auf einer Art Récamière in einer unbestimmt auf körperliche Schwäche hindeutenden Liegeposition befand. Seine Hände, die in drahtlosen Datenhandschuhen steckten, vollführten gestische Bewegungen im Cyberspace, hier in einem auf Finanzinstrumente spezialisierten Datenraum, wobei der virtuelle Handel durch komplexe Polygonformationen repräsentiert wurde, die mittels einer Datenbrille in Echtzeit auf die Augäpfel des Benutzers projiziert wurden. Das Herzstück des Systems sei eine übertaktete Cray XK7, die zu unseren Füßen dauerhaft in einem Bad aus flüssigem Stickstoff versunken läge und die über einen Hochgeschwindigkeitsknoten in Frankfurt am Main stets direkten Zugriff auf den europäischen Internet-Backbone habe, wie Tristan leise sagte, der mit katzenhafter Anmut aus dem Dunkel getreten war um mir Tee und Datteln zu servieren. Vor allem Spekulationen gegen die Deutsche Mark, später Verkaufsoptionen auf Siemens Nixdorf, jeweils mit denkbar größtem Volumen, wie Tristan, stolz auf seinen Herrn, hinzufügte. Er trug Kungfuschuhe und einen bestickten Hausmantel aus schwarzem Satin. Ihn umgab ein Hauch von Eau Savage. Ich nickte, trank etwas Tee und nahm eine Oxycontin. Fauchend blitzte der weißblaue Zündfunke des in die Wand eingelassenen Kerosinkamins auf.
Langsam kehrte ich dem Bett, darin der Leichnam lag, meinen Rücken zu und zog die deckenhohen schweren schwarzen Vorhänge beiseite, öffnete rasch die Fensterflügel und stieß die Läden auf wie ein Erstickender. Es hatte geregnet. Die Luft war frisch und roch nach Erde. Der Garten den ich überblickte fiel gegen eine weite Ebene ab, in der er endlich aufging. Auf einer Art Lichtung, einem von Eichen umstandenen, sehr gepflegtem Rasenstück stand ein schwarzer Kampfhubschrauber, der müde die Rotorblätter hängen ließ. Junge Männer hoben hölzerne Kisten in den Frachtraum, und bückten sich gegen speziell geformte Nylontaschen, in denen sicher optische Geräte oder Waffen gut gepolstert lagen, wobei sich unter schwarzen Uniformblusen und ebensolchen Hosen von derbem Gewebe verschiedenste wohldefinierte Muskelpartien und straffe Hintern recht viril abzeichneten. An klaren Tagen, wie es dieser war, ließ es sich von hier über den Neusiedler See, der im kaltem Lichte silbrig lag, weit gegen den Balkan blicken, und im Mittelgrund erstreckten sich die weitlich aperen Vorgipfel des Alpenkammes deren schattige Schründe von tintenhafter Schwärze erfüllt waren. Eine kleine halbleere Kunststoffflasche stand am äußersten Ende des Fensterbrettes, das aus schwarzem Gestein war, darin waren silbrigkristalline Fäden gewoben und versteinerte Weichtiere des Devons die dort seit langem ruhten, doch just jetzt ihre fossilen Gliedmaßen schwerfällig aus der polierten Glätte hoben – wohl um neuen Halt tastend, unheimlich und steinern. Ich nahm mit Widerwillen einen Schluck des abgestandenen Wassers und schluckte eine Oxycontin. Nur hinaus aus diesem Totenhaus! Und ich ging durch den weißen Raum mit den schwarzen Vorhängen, die unter dem Einfluss einer seeseitigen Brise etwas wogten. Alle Gegenstände, auch das Bett des Leichnams, der unter einem sehr weißen und gestärkten Tuche lag, waren von einem lachsrosa Lichtschein, der durch die Fenster einströmte, in ihrer eigentlich nüchternen Farbwirkung beeinflusst. Dann gab ich mein Bemühen um pietätvolle Bewegung auf und begann zu laufen, durch den eichengetäfelten Enddarm eines Herrenhauses ohne Erben, silberne Leuchter, Geweihe und Delfter Vasen huschten am Rande meines Sehfeldes vorüber, radierte Fuchsjagdszenen, die in Öl ausgeführte Ankunft kolonialer Handelschiffe in einem Handelshafen, wohl Triest, Kelimläufer, ein Faktotum mit dem papierenen Teint in der Farbe eines Knollenblätterpilzes, stoisch in Feudelei an ochsenblutfarbenen Ledermöbeln begriffen. Ich rannte, stieß Türen auf und hastete durch das eiserne Portal hindurch, nur hindurch!, zunächst auf einer leicht abschüssigen Landstraße durch abgeerntete Winterweizenfelder, dann mit einem Satz über einen an den Rändern sehr gatschigen Graben in den Wald, der hier licht war und dessen Bodenstruktur dem Auge von grünblondem Gras formuliert wurde. In der Ferne erschallte eine Alarmanlage und zerknautschte Colabüchsen in den verschiedensten Stadien des Verfalls waren mit dem Gras verfilzt, aus dem bei bereits beiläufiger Berührung bald Tausende von Tigermotten stoben. Ich entfernte mich weiter von der Straße, da die Dunkelheit des Waldes mich naturgemäß anzog. Unter den dichten Wipfeln der Fichten wuchs wenig anderes als mir unbekannte Pilze. Feuchtglänzende Hüte auf obszön gespannten Stielen, an die sich kleinere Pilze gleicher Rasse energisch anschmiegten, unter deren Hute widerum kleinere Pilze Schutz suchten, die von winzigen und noch winzigeren Pilzen bedrängt wurden. Mir schien, als würden die Hüte der Pilze farblich oszillieren, bald so, als würden diese schwellenden rekursiven Zusammenrottungen aus unsichtbarem Gefäss von morbidem grün übergossen, bald innerlich von scharlachroten Valeurs matt durchglimmt. Ein artifizielles, gleichsam giftiges Glimmen, das zwar matt anmutete, aber die in sich verschränkten Äste, die einem unauflöslichen Mikadospiel glichen, als surreal verzerrte Schatten projizierte. Das kahle, mir tückisch entgegengereckte Geäst der Bäume riss Löcher in mein Gewand und ließ Blut an Schenkeln und Rippen herabrinnen. Da sie mir schließlich hinderlich schienen, zog ich meine Schuhe aus um sie fortzuschleudern; – Schuhe, die ich einst in Mailand arbeiten ließ. Der Rechte verfing sich mit seinem Senkel in der Gabel eines Astes um dort höchst grotesk zu baumeln, den Linken indess schluckte still das Unterholz; er mag dort einem scheuen Waldtier treffliches Domizil geworden sein, etwa einem juvenilen Igel. Dann dünkte mich der Ort kalt und unwirtlich, und mir war nach einem wohligen Bett aus Moos und Erdreich. So suchte ich mir eine recht humide Stelle am Rande einer Lichtung, legte mich rücklings nieder und begann mit den Armen zu rudern um mich hinabzuwedeln in das köstliche duftende Erdreich. Eine experimentelle Tätigkeit, wie sich zeigte, die, schließlich erfolgreich, mich die morphologische Ähnlichkeit von Flunder und Maulwurf erfahren ließ, da ich durch ihre Körper ging in meinem Wirken. Die Wände meiner kleinen Heimstatt waren von zarten Schößlingen und sich windenden Engerlingen durchsetzt; zu darben hatte ich also nicht.
Ich wälzte mir eine behagliche Kuhle, nahm eine Oxycontin und schlief einen tiefen Schlaf.
Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.
11. April 2013