Frau von Vogel

Frau von Vogel ließ die halbfertige Makrameeeule sinken und räusperte sich:

Die Sonne stieg empor und die Nebel, die über dem Marschlande lagen lichteten sich zögerlich. Ein Wind ging vom Meere und die Scholle war feucht, daß die Hufes des Fleckviehs einsanken. Weites flaches Land, das der Mensch urbar gemacht, gleichsam gegliedert hatte durch Kanäle, Straßen und Zäune. Es roch nach Tränengas und wir hörten einen Helikopter träge kreisen. Bald in der Vagheit des Bodennebels, bald im Morgenlichte, sahen wir die steifen und übernächtigten Reihen der Polizisten, die grobe schwarze Monturen trugen und weißglänzende Helme. Und in uns erwachte erneut der Groll und wir schrien gegen diese stille Macht und warfen Gegenstände gegen sie, wohl auch mit leichtflüchtigen Flüssigkeiten gefüllte Flaschen in parabolischer Flugbahn, aus denen blakender Hader ragte. In unseren von Ingrimm lodernden Augen, war das gleichsam ein Leviathan, der abstrakt in den Strukturen der Industriewerke aufschien, in den Kriegen des Militärs und des Kapitals gegen das Volk, oder eben hier, in der Errichtung eines titanischen Kraftwerkes in uraltem Agrarland. Das Don-Quijotische unseres Aufbegehrens sollte den meisten von uns erst peinlich aufscheinen, als die Jugend von uns ging. Manchen endlich als das sowjetische Reich zerfiel.

Da aber löste sich aus den amorphen Reihen der Polizisten eine Gestalt und schwebte, kontinuierlich an Form gewinnend, auf mich zu, zog den weißen Helm empor über den Kopf und ließ ihn fortgleiten in das Zwielicht; siehe, es war eine Frau, die hatte hellblonde Locken und ihre Haut war sehr weiß und bar jeglichen Makels. Da fiel auch die schwarze Montur von ihr wie von einem Reptil. Sie war anmutig und eine Aura aus weißblauen Flammen rahmte ihren Leib und sie sah mich aus klaren Augen ruhig und eindringlich an, daß mich eine große Friedlichkeit ergriff und eine warme Welle schwang vom Bauche aus durch meinen Körper. Die ganze, eben noch dynamische Situation war wie eingefroren, so als stünde die Zeit still. Als ich mich umblickte, gewahrte ich, wie vertiert die Physiognomien meiner Mitstreiter waren, ziegenhaft etwa oder hündisch. Und daß von ihren Lederjacken und Palästinensertüchern ein Geruch ausging, der talghaft war und schwefelig, daß es mich anwiderte. Ich erkannte die Kluft, die zwischen mir und den Protestierenden bestand, deren Teil ich gerade noch zu sein meinte und fühlte die warme Energie, die seitens der weißen Gestalt mit Macht in mich einströmte. Im Jahre 1981 hatte ich auf einer Wiese bei Brokdorf eine Engelserscheinung.

Mein Gedächtnis versagte. Über mehrere Jahre offenbar, die ich später nur als gleißende Leere erinnerte. Ich öffnete meine Augen und saß in einer Filiale der Fischrestaurantkette „Nordsee“. Wie einem werblichen Tischaufsteller zu entnehmen war, befand ich mich in Ingolstadt. Von meinem Fensterplatz aus konnte ich auf eine generische Fußgängerzone in Kunstlicht blicken. Eine Gruppe von musizierenden Peruanern in folkloritischen Strickjacken, die „El cóndor pasa“ mittels Panflöten vortrugen. Stumme Paare und unscheinbare Passanten mit Plastiktüten von „Wit-Boy“ oder „Horten“. An den Lampenmästen und Fassaden weihnachtlicher Schmuck, vielfarbig elektrische Girlanden und mit der Spitze nach unten hängende Sterne, als dienten sie der Huldigung Baphomets. Böen und Schauer ließen einen Mann in den schützenden Windfang des Fischfranchisers treten, um sich dort eine Zigarette der Marke „Peter Stuyvesant“ anzuzünden. Ich sah deutlich die Art wie sein nikotingraues Haar über den Mantelkragen fiel, der vom Talg glänzte.
Vor mir, auf einem Teilungsteller, eine panierte Flunder, eine kleine Salatgarnitur und drei Salzkartoffeln mit Schnittlauchdeko. Ferner ein kleines Glas Cherry-Coke. Selbstverständlich war mir nicht bewußt, diese Bestellung, die auf einem hellgrauen, mit eingeprägten Fischsymbolen bezeichneten, Resopaltablett stand, an der SB-Theke entgegengenommen, gar bezahlt zu haben. Wie eine hastige Nachsuche ergab, befand sich nichts außer einem gebrauchten Tempotaschentuch in meinen Taschen. Das bernsteinfarbene Getränk stürzte ich in einem Zug hinunter, da ich unterzuckert war und schied sodann mittels Besteck die fettstrotzende Panade von dem gesottenen Plattfisch, da mir der Verzehr der Panade aus spirituellen Gründen nicht erlaubt zu sein schien. Mein Name und mein Alter waren mir zu diesem Zeitpunkt keineswegs bekannt. Das waren die Jahre des Lammes.

Frau von Vogel schwieg. Blicklos nahm sie die halbfertige Makrameeeule wieder auf.



22. Dezember 2014