Direkte Ansprache in der dritten Person
Man sieht hier noch das frühere Kino, später mit senfgeprenkelten Fliesen ausgekleidet zum Lebensmittelgeschäft, daß man mit dem Schlauch durchgehen könnte wenn nötig, die von schmalen Schlitzen durchbrochene Empore, von der die Filme durch einen – so stelle ich es mir vor – staubigen Saal an die Leinwand projiziert wurden. Eine Frau, wohl Russin oder Polin, die sich im Supermarkt mit zwei soeben gekauften Plastikbeuteln voller Blumenerde müht, so flachgepresste, die dann aber, sobald man sie unter den Arm zu klemmen versucht, nachgeben und schlapp in der Mitte durchhängen, zu sehr um sie würdevoll greifen zu können, zu wenig jedoch auch zum bruchfreien Falten des Gebindes. Da wendet sich schließlich die Kassierin in ihrem Drehstuhl der mutmaßlichen Russin zu, sie trägt eine Strickjacke mit Rentiermotiven, da Zugluft hier ein Problem darstellt, und die Tiefkühlregale ein zusätzliches an feuchter, an die Nieren gehender Klammheit aushauchen, und sagt – vielleicht auch weil sie mit der Russin vom Sehen bekannt ist, eine gut zahlende Kundin möglicherweise zudem, die auch Morchelöl oder andere hochpreisige und überkandidelte Waren kauft – sie kann den Einkaufswagen auch mitnehmen und später wiederbringen. Dabei blickt sie aber die Russin direkt an, so als spräche sie in der zweiten Person zu ihr, und lächelt etwas; die Angesprochene hat sich, der an sie gerichteten Worte wegen, aufgerichtet, von den Substratsäcken abgelassen und wischt sich schlanken Fingers einige Krumen von ihren safranfarbenen Hosenbeinen, die in blankgewienerten rotbraunen Lederstiefeln stecken. Will er den Kassenbon, sagt später die Kassiererin mich ansehend und mir zugleich das aus dem Drucker hervorkringelnde, zahlenbedruckte Papier mit fragender Geste hinstreckend.
21. April 2008
Sehr schön mal wieder.
Aber kenn ich. Die Kantinenfrau. Zwar spricht sie mich mit Vornamen an „Rollinger, Will er noch Kartoffeln?“
Wie schade, ich dachte, Morchelöl wäre eine Ihrer unnachahmlichen Erfindungen, Herr No.
Danke die Herren. Ich habe mal ein wenig gesucht, aber das Internet bietet keine Informationen zu diesem Phänomen. Ist es die Aversion gegen die Anrede mit „Sie“ oder „Du“, die Sprecher veranlasst in die dritte Person zu verfallen, – ich würde es fortan als „Allocutiophobie“ bezeichnen – sprechen auch einzelne Holländer oder Engländer so, ist es eine seltene Sprachmeise, ein Indiz auch für eine spezielle soziale Störung? Oder ein höfischer Atavismus, der in kaisertreuem Umfeld bis heute überdauern konnte?
ich finde Leute, die von sich selbst in dritter Person sprechen allerdings noch befremdlicher. Ich zitiere selbigen: „Hol dem Vater mal ein Bier“
Oder „Gleich wird die Mutti ganz, ganz böse.“ Ein frühkindliches Trauma, schon möglich.