Die Toteninsel

Gestern besuchte ich einen Ort, dessen Anblick ich Zeit meines Lebens nur en passant und durch Fahrzeugfenster kannte. Ein Friedhof, der zu vier Seiten von Eisenbahnstrecken und Autobahnen umflossen wird. Das Gelände befindet sich auf gletschergeschaffenem Bodenniveau, wurde aber von brausenden, in Hohlwegen verlaufenden Verkehrsströmen zu einer Insel geschnitten. Als ich über die schmale, zum Friedhof führende Metallbrücke ging, unter mir die von Schmelzwasser graubraunen Fahrzeuge, dachte ich an Böcklins lebenslanges Sujet, das hier in dystopischer Ausformung vorliegt. Die Gräber und Namen auf den Grabsteinen sind gründerzeitlich. Unter nassen Eisplatten rann träge Wasser hervor, die Sonne schien verhalten und einzelne Amseln sangen in den Ästen der alten Eichen oder am Fuße von Rhododendronbüschen. Einige der Gruften scheinen nur noch von den sie umschlingenden, armstarken Efeurhizomen gehalten. Engel und Medusen, die Zeit und Messingwasser kränklich grün werden ließ. Hier liegen verstorbene Besitzbürger und ihre Namen sind in serifenlosen aber vormodern schwellenden Majuskeln in Muschelkalk getrieben. Ausgehender Jugendstil, beginnender Neoklassizismus, wie oft an solch vermodernden Orten. Das Gelände ist recht klein, vielleicht etwa halb so groß wie mein Garten und ähnlich wie Böcklins Gemälde im Zentrum dicht von Bäumen bestanden und gegen die Brandung zu drei Seiten mauerumschlossen. Jenseits der porösen Umfriedung, wo das Gelände gen Autobahn und Schienen abfällt, sprießen junge Birken aus Waschmaschinen und junge Graffittikünstler staksen durch widriges Dornengesträuch.

In diesem schmalen Streifen zwischen entfesselter Kinetik und Totenreich, dieser Ungunstlage, die eigentlich ein Unort ist, siedeln Kleingärtner. Es sind wahre Siedler, die karges Land urbar machten und ihm kraft Technik und Glauben Wert in Form von Heimat abtrotzten. Mir scheint diesem Bild ein Wirken innezuwohnen, daß diametral zu dem der Medien ist. Ich sehe hier das Werk von Menschen, die Sägen und Hämmer zur Hand nahmen um eine Laube zu errichten, die Geranien pflanzten und eine Hollywoodschaukel rausstellten, die Doornkaat trinken und Bundesliga im Fernsehen anschauen: Segen der märkischen Erde!

Wer benötigt jedoch eine Medienmaschine, die Gold zu Scheiße verwandelt? (Wobei Gold die reine Information darstellt und Scheiße schließlich die Meinung von Weblogautoren) Ich wünsche aus dem Inneren geschöpftes, unmittelbar Erlebtes, Erdachtes oder Gewusstes; Autoren, die eloquent über Möbelbau oder Alpenpflanzen zu schreiben vermögen, die beschlagen sind in flämischer Genremalerei wie im Golfsport, die über eine historische Schusswaffensammlung verfügen, mit dem Imkereiwesen vertraut sind oder vielleicht gerade eine Expedition zum Kilimandscharo durchführen. Was ist muss sterben; stockfleckig, feucht und von Rissen durchzogen ist dieser Medienpopanz und ich warte still auf sein Ableben, wie ein Volk stoisch das Ende eines greisen Diktators ersehnt.



24. Februar 2010