Das Hineinschleichen der Fauna
Bei Nacht stehen wieder oft Wildschweine auf der Wiese am Fuße des Hauses. Ein Gestalter könnte die Tiere nicht schöner anordnen. Im Licht von Laternen wirft das Schwarzwild Schatten, die wohl scharf begrenzt wären, wenn Gras und struppiges Haar keine rauhen Strukturen besäße. Namentlich die Silhouetten der äsenden borstenbesetzten Mäuler sind sehr deutlich und surreal vergrößert. Da sich mitunter Bodennebel bildet, beispielsweise nach dem Regen, sind auch Halos um die Tierkörper zu beobachten, die sich wellenförmig ausbreiten. Bei ihrem Mahl beschädigen die Tiere die Grasnarbe mit robusten Schnauzen z.T. erheblich, da sie natürlich – und wie leicht vorstellbar zum Verdruss der Mietparteien – keine Rücksicht auf das gärtnerische Konzept der Wohnanlage nehmen in ihrem instinkthaftem Streben nach Nahrung. Ein klassischer Interessenkonflikt liegt also vor – auch ein jähes Aufeinanderprallen von Zivilisation und Wildnis.
Mir gegenüber saß ein Heroinabhängiger. Seine Augen waren als eine Art Standard in ihrem Aussehen von einem gleichförmigen, jedoch schwer zu fassenden Schleier getrübt, der aber ungleich dem des Stares ist. Eine haifischartige Ausdruckslosigkeit zunächst, wohl selbst wenn der Morphinist von gutmütigem Wesen und regen Geistes ist. Das Auge ist dem Gehirn entkoppelt, wenigstens wie eine dieser einseitig durchsichtigen Scheiben, die Ladendetektive in die Lage versetzen, Ladendiebe zu beobachten, die sich unbeobachtet wähnen. Augen, mit denen sich ein Pokerturnier gewinnen lässt. Die Trübung der Iris wirkt, als sei sie rasant und durch geringen Einfluss eingetreten, wie die photochemische Ausfällung gelösten Silbers zu einer dünnen grauen Milch.
Den Augapfel des Morphinisten als elfenbeinfarben zu beschreiben wäre trivial. Es ist eher ein gebrochenes grüngoldgrau und schwer zu fassen und zudem bald unmöglich zu mischen, weder mit Aquarellfarben noch natürlich vermittels einer Computerpalette, wie auch das farbliche Nachbilden des vermeintlich metallischen Chitinpanzers eines Käfers – denken Sie an Centonia aurata etwa oder Gnorimus nobilis – jenseits der Grenze des uns zu Gebote stehenden Farbraums liegt. (Jan van Eyck könnte das bestenfalls, der durch ausgefuchste Lasurtechnik im Stande war Körperlichkeit und die ihr innewohnenden komplexen Brechungsphänomene überrealistisch abzubilden. Ich meine jedoch einen Einzelton.)
Als neulich an einem trüben Nachmittag tintig dunkelblaue Regenwolken tief hingen und als dann der Abend kam und die Sonne aprilhaft, in spitzem Winkel, unter den Wolken hervorschien, die sich gegen den Zenith hoben wie ein düsteres Gebirge und die Atmosphäre zwischen Sonne und Betrachter von aufsteigendem Nebel und feinen schleierhaften Regenfällen erfüllt war; da erschien mir dieses grüngoldgrau – eine feine und vergängliche Farbe, die sekündlich in verschwärzlichtere Valeurs hinabsank.
Eines nachts ging ich spazieren. Da stieg ich einen kurzen steinigen Pfad hinauf, den Beikraut säumte. An meinem Kopfe glimmte und pulste elektronisch eine Stirnlampe. Die Struktur des kleinen Berges, der künstlich ist, bildet sich aus Trümmern, die auch aus dem Boden ragen, aus Backsteinen und Armierungseisen, die expressionistische Schatten ohne Zeichnung werfen. Es handelt sich um eine Landschaft, die Adolf Hitler posthum formte. Kurz vor Erreichen des Gipfelplateaus befanden sich meine Augen auf Bodenniveau und ich sah im Vordergrund die Silhouette eines zügig gen Süden flüchtenden Hasens vor dem rummelhaft erleuchteten Stadtpanorama in der Ferne, dessen kariöse Kleinstadtanmutung und klägliches Streben in die Vertikale sich letzlich durch allierte Bombenteppiche bildete. An der Seite, die gegen den Wald geht, zeichneten sich schemenhaft, da umnebelt und zwielichtig, die Silhouetten von Wildschweinen in romantischer Idealverteilung ab; schwarz vor anthrazitfarben nebliger Nadelbaumrauheit. Am Rand des Plateaus standen zahlreiche Polizeiautos und Polizisten liefen umher wie krabbeliges Insekt, in betresster Uniformbekleidung aber auch in weißen Overalls. Es blinkten blaue Blinklichter und Scheinwerfer warfen ein kaltweißes und nüchternes Licht der Aufklärung. Ein silberner Geländewagen funkelte im Lichterschein. Seht, Handlungen verwandelten das Gefährt gänzlich zu einem Indiz.
Schön ist immer der Blick nach Norden: Kraftwerke und Schwerindustrie, die am Ufer eines ölig schwarzen, sich träge und devot gen Mündung wälzenden, von rostigen Spundwänden korsettierten Flusses liegen, in dem mehrfach benutzte Einwegspritzen und korrodierte Fässer mit Abfällen aus ukrainischen Leichtwasserreaktoren dümpeln und an deren Uferböschung, tief im Dioxinfeinstaubschmodder, metallische Tausendfüßler hausen, die sich an angeschwemmten Teerbatzen schadlos halten. In dunklen und stürmischen Nächten wabern die Rauchfahnen der Schlote fast waagerecht und am Horizont schillern Nordlichter; grünlich, von violetten Schlieren durchwirkt, wie Benzin auf einer finsteren und tiefen Wasseroberfläche voller Phosphate.
2. September 2010
Das ist ein hässlicher Hase.
Ich fand die Regenpfützen immer so toll, in die Motoröl getropft war. Regenbogen auf schwarz.
@fabe ja. Echte Niedlichkeit wurde erst spät erfunden. Damals, so scheint es immer, wurde sogar einfache Possierlichekeit absichtlich und sicher auch mühsam subtrahiert.
Hasen sahen schon immer so aus. Der Körper des Hasens ist stets von Sehnigkeit gespannt, was ihn verhärmt und herb erscheinen lässt. Nun sind aber athletische Anmutung und Kindchenschema zwei Paar Schuhe.
Die gesellschaftlichen Gruppen, die unsere Wahrnehmung mit vermeintlicher Hasengoldigkeit penetrieren, beispielsweise zum Osterfest, bedienen sich dazu ausschließlich der Abbildungen von Kaninchen, die aber in trügerischer Absicht für Hasen ausgeben werden.
Aber man muss doch einen eleganten Hasen nicht gleich zum stummelohrigen Pittbull-Derivat umwandeln.
nein, No, die Sehnigkeit ist hier leider einer klobigen Muskelstarre zum Opfer gefallen.
Das meine ich:
http://www.2jesus.de/images/images_main/hase-wiederkaeuer.jpg
Bitte beachten Sie den Otter (?) links der Bildmitte, der auch heutigen Niedlichkeitsanforderungen gerecht wird.
Wie furchteinflössend die Krallen des dürerschen Feldhasens sind. Schauderhaft! Auch werden unsere hoch gesteckten Erwartungen an Häschenflauschigkeit nicht hinreichend bedient.
Kariös!
Würde der Hase seine Pranken über dem Gesäß der Meersau falten und zum Pferdeköpfigen Hasengott beten, hätte Dürer seine Pläsier.
Manche Exemplare haben auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie attackieren zum Bleistift Altnazis und Bullenschweine. http://ooe.orf.at/stories/185988/
„Angefallen, gebissen und umgestoßen“ (aus dem verlinkten Beitrag meines Vorredners) – was die angeblich dahinschleichende Fauna in Kooperation mit dem dramaturgischen Geschick eines Lokalreporters hier zu schaffen vermag… Eine Mini-Oper in sechs Akten! Man möchte zu Boden fallen und sich im Haus verstecken vor der Wucht des Erzählten. Ich war ehrlich beeindruckt, vielen Dank.
So liab, der ORF! Diese Pfundskerle verstehen sich tatsächlich darauf Banales zu dramatisieren, ja den Meldungen noch twinpeaksartiges Mysterium einzuhauchen. Mächte, die aus dem Wald kommen oder dorthin verschwinden – in die Dunkelheit.
In der Tat! Kann es sein, dass sie dort sogar eine eigene Rubrik unter dem Namen »Gebissen« führen…? Ich habe die Kunst des ORF übrigens zum Anlass für einen kurzen Text genommen, der sich mit einem ähnlich gelagerten Fall beschäftig und den Sie aktuell auf meinem Blog nachlesen können. Nie um einen Anlass für Eigenwerbung verlegen, möchte ich aber noch erwähnen, dass ihr Fauna-Text, Herr No, natürlich auch meine wohlwollende Aufmerksamkeit genossen hat. Druschba!