Von Grimma nach Krasnodar

Um sieben Uhr Abfahrt bei niedrigen Wolkenbänken und empfindlicher Kälte. Stübbe rückte seine Schutzbrille in Positur und schwieg. Wir saßen in einem feuillemortfarbenen DKW Monza mit Alternativgetriebe. Immer weiter gen Osten ging die Fahrt, hinein in die Steppe. Wenn der Motor schwieg, hörten wir die Front.

Gelegentlich, wenn, was einmal Lohe war, nurmehr gloste und ein Klopfen in den Zylindern anhob, griff Stübbe, der neben mir, im Fond des Wagens reiste, nach hinten, gegen die staubige Rückbank, und packte zwei, drei Torfbatzen vom Stapel, der dort, von flinken Händen aufgeschlichtet, lag; Klappe auf und hinein damit in die Brennkammer, wo einst, im Frieden, Handschuhe, Kartenmaterial und Proviant Heimstatt hatten.

Über das so sichtbar werdende Gelenk Stübbes, das sonst stets in den Mantelschößen verborgen lag, lief eine spannenlange unbehaarte Hautpartie, die an der Wolfskralle abrupt zu enden schien, rosa Narbengewebe, wulstig pochend. Im Club hieß es hinter vorgehaltener Hand, ein bereits auf Deck liegender, vermeintlich toter Thun, der sich im Nu zu einem lebensbejahenden Derwisch mauserte, sei verantwortlich dafür. Andere wollten wissen, beteuerten felsenfest es mit eigenen Augen gesehen zu haben, daß man Stübbe in einer übel beleumundeten Kellerbar in Addis Abeba auf Messer gefordert hatte.

Uns umgab die Steppe. In einer verbrannten Krüppelkiefer hing ein totes Pferd. Wenn die Schnauze des Wagens in ein Schlagloch eintauchte, wirbelte feiner Staub auf, ein Staub wie emporgeblasener Zimt. Manchmal versetzen listige Freischärler die Werstpfähle, die die Straße säumten, und Reisende fuhren direkt, zum Teil mit hoher Geschwindigkeit in die Erdhöhlen der Freischärler und wurden dort beraubt und geköpft, wie gesagt wird. «Es wimmelt hier vor Feinden, bloss werden wir ihrer nicht angesichtig, da sie sich eingegraben haben und dort stoisch verharren wie die Mucker im Winter» sagte Stübbe und seine pelzige Rechte wischte eine vage Geste gegen die Einöde vor den Wagenfenstern. Obschon die Sonne hoch am Firmament stand, war es düster, da der Horizont verfinstert wurde von Ölfeldern und Autoreifen, die im Rahmen kriegerischer Handlungen entflammt worden waren. Als silbrigfahle Scheibe stand die Sonne im schwarzbraunen Qualme.

Plötzlich ging alles sehr schnell: das Auto wurde von einer Hammelherde umwimmelt, die jemand dorthin getrieben hatte – vierschrötige nagergesichtige Gesellen mit bukolischen Bärten, wie man sah. «Ein Hinterhalt! Raus aus dem Wagen!», gellte die Stimme Stübbes und wir rollten die Böschung hinab zu einem eisigen Fluss in dem zwei lehmverkrustete deutsche Soldaten lagen – die Gesichter nach unten, die Beine steif und unwirklich verdreht.

Wir hatten uns anhand eines Messtischblattes zu einer Karawanserei durchgeschlagen, die die Wehrmacht für deutsche Reisende in kriegswichtiger Mission requiriert hatte. Ich trug eine mit Hundefell abgefütterte Joppe aus Ölzeug, genagelte Juchtenlederstiefel (die ich jeden Abend mit Birkenteeröl einzuseifen pflegte), ein rostrotes Hemd aus persischer Rohseide und eine derbe, dieselölgetränkte Drillichhose in Salz-und-Pfeffer-Optik.

Gleich bei der Pforte, im Hof der Herberge, in dem die Mandelbäume blühten und gerade flügge gewordene Falken von Zweig zu Zweig flatterten, saßen beim Brunnen, an dessen kühlem Grunde sich grünlichfahle Wasserschlangen ringelten, zwei emsige Zwangsarbeiterinnen und strickten Unterwäsche aus schwarzer Kamelwolle, nach der die Front dringender denn je verlangte. «Siehe», sprach da Rebecca zu Sarah, die dunklen Augen gen Gestirn gerichtet, «der Falke, er windet sich hinauf in höchste Höhen, die dortselbst nurmehr von äolischem Gesumm erfüllt ist; er achtet nicht des Falkners Ruf, noch seine Gesten, die ihn herabbedeuten und ein gekrümmter Horizont, der in rauchreichen Flammen steht, wird in benetzten Bernstein geworfen.»
«Fürwahr! Auch deucht mich, sein Weg sei gleichsam unser Kelch, der randvoll ist von schwarzer Milch», sprach da Sarah und geschwind glitt grob gesponnenes schwarzes Haar durch ihre mageren und wunden Pfötchen, wie es der Plan vorsah.

Die Wände des Festsaales waren mit pfauenblauen Fliesen verkleidet und die Decke war arabeskenhaft stumpfgolden ausgemalt. Und ein Brunnen war da, an der Längsseite, in dem es munter plätscherte von einem Wasserspiele. Knospende Seerosen trieben auf der Oberfläche und feiste Karpfen wie aus patiniertem Messing stießen empor und sperrten träge ihre Mäuler auf. Lakaien gingen in Pantoffeln leise auf und ab; sie trugen Leinsäckchen bei sich und kleine Feger zum Aufnehmen des Sandes, den der Khamsin unermüdlich hineintrieb. Da für die Fensterdichtungen gedörrter Kameldarm verwendet wurde, der naturgemäß oft spröde und alt war, hatte der Wind ein leichtes Spiel. Durch Spalten und Ritzen mäanderte die Wüste herein und der Sand bildete selbstähnliche Strudel, die dann gerippte Dünen wurden, die der nachrückende Strom zu kleinen Gebirgen aufhäufte, bis schließlich dienstbare Schatten sie mit verhuschten Gesten fortfegten. In den Fundamenten der vier Windtürmen, die die Ecken der Karawanserei bildeten, schaufelten Gefangene erbittert gegen den vordringenden Sand; wer in seiner Arbeit nachließ, den unterwarf der Mahlstrom ohne Ansehen der Person.

Da die Sonne sich glühend senkte, war Stübbe, der Stunde gemäß, mit dem weißen Sommerrock der Wehrmacht angetan, an dem die rangtypischen Kragenspiegel aus weißgoldenem Eichenlaub prangten; kontrastiert wurde dieses zweifellos schneidige Erscheinungsbild durch ein auffallend geschmackvolles Einstecktuch aus bronzefarbenem Battist, wie um vermittels solch eines zivilen und dandyhaften Accessoires der Jenseitigkeit militärischer Form an diesem Orte Ausdruck zu verleihen.

Eine Kapelle war von hinten, über ein rohgezimmertes Palisandertreppchen auf die Bühne gestiegen. Die Musiker trugen silbrigweiße Jackets, die bei Faltenwurf etwas glitzerten. Scheinwerfer warfen einen scharlachroten und dunkelblauen Lichtschein auf die Bühne.
Es handelte sich um eine ausgewachsene Bigband, in deren Mitte jedoch auch Fagottspieler und Negertrommler ihren Platz hatten. Die Band spielte einen bekannten Lindy-Hop und Tänzerinnen drehten sich anmutig im Kreise und schlugen sanft die Pfötchen aneinander.

Um applaudieren zu können, was Stübbe mit einigem Enthusiasmus tat, da ihm die Nummer gefiel, hatte er sein Highballglas auf einem Tischchen abgestellt, wenngleich sein Klatschen nur vergleichsweise schwach erklang, da das struppige Fell zwischen den hellen Zehen einiges dämpfte. Während noch die letzten Musiker die Bühne verließen, wurde vermittels Hydraulik eine Art metallische Düse aus dem Bühnenboden emporgefahren, die schließlich mit einem Geräusch in ein unsichtbares Bajonett einrastete. Die Öffnung der Düse war, wohl von vorherigem Gebrauch, mit feinen Schmauchspuren überzogen. Ein Rauschen hob an – bald krächzender Diskant, bald geisterhaft gutturales Gemurmel und ein mattes rotes Licht begann in den Tiefen der Maschine zu glimmen, drang durch die Düse nach aussen, in den Saal, in dem Stille herrschte. In Wellen pulste das Licht nach oben, nahm an Stärke zu, Schemen wurden sichtbar, vage Formen zunächst, gleichsam flüchtiges und kränkliches Gewaber, bis mit einigem Geknister ein Abbild des Führers auf der Bühne erschien, dessen Blick schweigend auf dem Auditorium ruhte. Ein Hologramm Adolf Hitlers, überlebensgroß und gänzlich aus rubinrotem Licht modelliert, an dem winzige Verbindungsstörungen, in Form von feinen, wohl ozongespeisten Flämmchen umhergaukelten, die einige Augenblicke in der Luft nachglühten, wenn der Führer seine Arme zu charakteristischen Gesten erhob, die in fahriger Bewegung, wohl auch da der Führer die Ostfrage ansprach, zu Artefakten zerfielen, sich jedoch in relativer Ruhe rasch wieder bekoberten und sogleich an zwischengespeichertem Detail gewannen.

Wir standen an der Brüstung einer schmalen Dachgalerie, die die Windtürme der Karawanserei miteinander verband. Wind und Sand hatte die Fliesen, mit denen der Boden ausgelegt war, stumpf werden lassen. Daß sich eine Wetterwende abzeichnete, ließ der wirbelhaft aufstrebende, von königsblauen und salmonfarbenen Valeurs durchwebte Zug der Schleierwolken, wie auch das hochfrequente Pochen meines kleineren Schmisses an der Wange vermuten. Dank der abendlichen Klarheit war die sonst so entrückt anmutende Bergkette am Horizont scheinbar nah wie nie. Bald hier, bald dort blitzte an den Hängen gleißendes Mündungsfeuer, das sich leicht auch als kreislaufinduzierte Trugbilder hätte wahrnehmen lassen, wenn nicht das wohlbekannte heisere Husten der zahlreichen MG 34 die staubige Ebene mit düsterem Donner erfüllt hätte. Die Wehrmacht hatte sich in dem unwegsamen und zugleich strategisch höchst wertvollem Gelände eingegraben um feindliche Stellungen von erhabener Warte bestreichen zu können.

Bei der zweiten Angriffswelle, die mit schwerem Gerät durchgeführt wurde, hielt ich einen Absinthcocktail, in dem Eiswürfel schwammen, in der Hand. Die titanische Schönheit der fuchsiafarbenen Parabeln, die die Werfergranaten in den Himmel schnitten; das majestätische, gegen den Scheitelpunkt scharf anschwellende Brausen, das den Einschlag präludierte.

Stübbe lehnte kurz seinen Kopf gegen meine Schulter und sagte – sogleich wieder Haltung gewinnend «Für uns Aristokraten ist dies bekanntlich der einzig schickliche Ort der Emigration; denen aber, die sich dort im Dunkel in die Gräben ducken» – er blickte aus stahlblauen Augen gen Gebirge – «ist dieser Krieg in fernem Lande womöglich einzige Gelegenheit im Leben der Beschränktheit von Scholle und Werkbank zu entfliehen».

Da dachte ich an den schneidend kalten Winter sechsundzwanzig, den wir auf unserem Gut in Westpreussen verlebten, und schwieg. Die Knechte verluden einen zentnerschweren weißen Klotz auf den Panjewagen, vor dem die Wallache bibberten und aus den Nüstern dampften. In der Molkerei in Braunsberg schnitten sie’s mit der Säge runter und die pelzvermummelten Bürger trugen ihre Milch in khakifarbenem Ölpapier eingeschlagen heim. An Weihnachten, als Marga, die Gutsvorsteherin, wie angewiesen, eine irdene Schale mit Winteräpfeln vom Speicher hertrug für uns Kinder, sagte unser Vater «Wer weiß, was wird! Esst mir also auch ja die Griebsche!». Auf dem Gemälde beim Kamin sah er aus wie Friedrich Nietzsche.

Beim Abendessen. Im Saal waren zeitgleich Kellner ausgeschwärmt, die den Hauptgang auftrugen: Kandierte Kamelhoden auf einem Wildreisbett an einer Jus von Blutorangen und Armagnac. Da winkte Stübbe einen der Kellner heran, da er das Gericht, das allenthalben auf die Plätze eingesetzt wurde, allein aufgrund des Aussehens nicht liebte, vielmehr den Wunsch hegte, fortan à la carte zu speisen. «Bring die Fischkarte», belferte Stübbe – Barschheit, die in einer plötzlichen Depression, einer widrigen Ausschüttung von rivalisierenden Botenstoffen begründet lag. «Herr, die Küche hält lediglich Gepardenforelle vor, diese jedoch aus eigener Aquakultur», so der Kellner, der gebückt stand, wie in der Erwartung von Schlägen. Stübbe lüpfte die Lefzen, daß gelbe Fangzähne sichtbar wurden, die zwar etwas gelb waren, aber stattlich und wenig kariös.

Auf Stube. In einer zwielichtigen Ecke abseits des Fensters wälzte sich Stübbe unruhig auf einer seidenbezogenen Recamiere, die mit goldenen Ziernägeln reichlich beschlagen war. Sanft bewegte ein auflebender Wind die Vorhänge. Er beklagte erhebliches Leibreißen, daher trat ich an sein Lager heran. Ich maß seinen Puls, der erhöht war; ich betastete seine Flanken, die hart waren und spasmisch erzitterten – zudem troff weißer Schaum von seinen Läufen.

Ich saß auf einem Polster beim Fenster mit einem Belletristikband. Vor einer halben Stunde hatte ich mir eine Mischung aus Morphium und Lithium in das weiche weiße, von Deckhaar bedeckte Fleisch des Unterschenkels injiziert, vornehmlich gegen den pochenden Bauchschmerz, an dem ich nun ebenfalls litt, aber auch um meine trübe Allgemeinbefindlichkeit aufzuhellen.

Dr. Heinrich Brunner, der Stabsarzt betrat mit militärischem Schritt und knappem Gruß das Zimmer. Kurze visuelle Inspektion: – Totenflecken, genug, genug, ferner Puls: negativ. Da die Todesursache nicht zweifelsfrei auf der Hand lag, war eine Sektion angezeigt. Brunner hatte seine Bereitschaftstasche auf einem Sessel abgestellt und geöffnet; darin Skalpelle, Scheren, Sägen – kurz alle unerlässlichen Werkzeuge zur Zergliederung des Leichnams.

Ein kühn geführter Schlag auf dem Fechtboden hatte seinerzeit des Doktors Gesicht buchstäblich diagonal in zwei Hälften gespalten. Dank eines mit Bedacht eingelegten Roßhaares war die Narbe recht stattlich verhornt und verwachsen und hatte so eine expressiv asymmetrische Physiognomie geschaffen.

Der Doktor schob sein Monokel in die unversehrte rechte Augenhöhle, setzte das Skalpell routiniert an, schnitt bogenförmig entlang der Klavikel in das Fettgewebe, durchtrennte das Duodenum, dann das Darmrohr, eröffnete die Bauchhöhle und schließlich den Magen. Die schwülwarme Luft wurde zunehmend von Fliegen bevölkert, denen der Brodem der blossliegenden Organe nicht entgangen war. Brunner trat zurück, an ein Handwaschbecken heran. «Herz, Leber, Nieren et cetera perge perge unauffällig. Todesursache: Ciguatera – sprich Fischvergiftung.» Er sah mich kurz an, genau genommen erfasste mich der Autofokus seines auffällig messinggefassten Retina-Implantats von Zeiss, das sein linkes Auge ersetzte; der Engländer hatte es ihm sechzehn bei Ovillers-la-Boiselle weggeschossen. «Eine Fischvergiftung in der Steppe! Die Steppe kaut und kaut mit Drachenzähnen.» Ein deutscher Gruß und der Doktor verschwand, den rechten Flunk ungelenk und klotzig, wie hufartig nachziehend, durch den Türstock in die Dunkelheit. Den Geräuschen nach zu urteilen, hatte der Feind an Boden gewonnen. Draußen war die Nacht samtig über die Steppe gefallen, im Raum roch es nach Schwefel und Körperlichkeit. Die Fliegen balgten sich um den gärenden Leib des toten Stübbe, verschwanden im Fell, krabbelten gesättigt wieder hervor und ich fühlte, wie meine Beine an Substanz verloren und die Hose zu schlottern begann und schließlich graubraun und speckig auf den Schuhen zusammensank.



21. Januar 2011