Das Szenario von drei Reisenden und vier Armlehnen

Kürzlich bestellte ich bei einem Internetanbieter blindlings die jüngst neu erschienenen Erzählungen des Schriftstellers Joseph Roth. Der besagte Band liegt mir nun vor und ich lese mit einiger Freude in ihm. Es ist mir jedoch schleierhaft, wie der Verlag (Kiepenheuer und Witsch) sich so entblöden konnte, die Sammlung mit einem Nachwort von André Heller abzuschließen. Das ist ähnlich bescheuert, als brächte man beispielsweise eine schöne Hölderlinausgabe heraus – mit einem Nachwort von Udo Lindenberg.

Ich fordere fortan neonfarbene Aufkleber auf den Einbänden der Neuausgaben, die anzeigen, daß der Band auch Ergüsse von André Heller, Maxim Biller, Elke Heidenreich oder irgendwelchen anderen peinlichen Punks enthält. Wenn der Verbraucher qua moralisierender Aufkleber darauf hingewiesen wird, daß Hiphopalben Lieder beinhalten, die Frauenzimmer restringiert und derb in einem despektierlichen, lediglich libidinös geprägtem Lichte darstellen, oder (ich bringe ein weiteres Beispiel:) daß eine Konfitüre von der Bitterorange in einem Hause abgefüllt wurde, in dem auch Erdnüsse verarbeitet werden, so sollte einem eigentlich bereits der gesunde Menschenverstand sagen, daß speziell André Heller unbedingt gesondert ausgewiesen werden muss. Nicht wenige von uns haben eine Andréhellerallergie!

Die Lider einer Frau entfalteten eine erhebliche Aussenwirkung, da sie ein schillernder Pigmentauftrag überzog. Sie trat durch ein Rundbogentor aus einem umfriedeten Volkspark, in dem sich Volk erging, hinein in ein Straßenland. Da erschien ein Adjektiv aus dem nichts: Skarabäenhaft! Phänomenal und unklug von der Zeichenträgerin, da sie so den Betrachter überhaupt erst auf diesen Insektentrichter stößt. Die gesamte Physiognomie ist tatsächlich ein einziges Geschiebe aus Chitinplatten, die, wenn Mienenspiel und Rede nach draussen drängen, mit unweigerlichem Schaben, an glykanhaltigen Scharnieren verankert, gegeneinander malmen. Eine Entomologenwitwe wohl, der sich das Steckenpferd des Gattens ireversibel in die Züge einschrieb.

Die Luft war lau und Krähen kreisten in Schwärmen über den Auslegern von Kränen, da ging ich schlendernd am Ufer der Spree entlang, die Hochwasser führte, blickte dann in die Auslagen der Geschäfte hinein; interessiert, ja, jedoch ohne daß meine Nase Fettschlieren hinterließ auf dem Glase. Schließlich betrat ich ein Kino, nahm Platz, wie es das Billett vorsah. Da aber kam ein adipöser Junge daher, der forsch, just in dem Momente, da ich meinen Rock von dem, von ihm pantomimisch begehrten Platze nahm, einen großen Eimer Knusperwerk und eine amerikanische Limonade auf der Armlehne zu meiner Rechten abstellte und sich selbstsicher in das derart freigewordene Polster plumpsen ließ. Auch dünstete das Bürschchen im Verlaufe der Vorstellung ein nicht geringes Quantum an käsigem Körpergeruch aus. Die Renaissance eines alten Problemes. Ich meine nicht Muff, noch meine ich, daß es speziell der Jugend an Taktgefühl gebricht, daß heutzutage Vorbilder fehlen wie Mahatma Gandhi, oder wenigstens engagierte staatliche Jugendverbände, die die Sprößlinge unter ihre Fittiche nehmen könnten, wie es die jungen Pioniere taten oder die Hitlerjugend. Nein, dies meine ich nicht, ich meine die ungleich geringere Anzahl von Armlehnen, bezogen auf die Menge der Sitzplätze. Wem einmal das Schicksal einen Mittelplatz in einem Flugzeug der Baureihe Boeing 747 zuwies, wird wohl ein Lied von diesem Phänomen singen können. Unter den Ellenbogen des Mittelmannes liegt bestenfalls ein Territorium, das in kleiner Münze eine ähnliche Brisanz birgt wie die beschissenen Golanhöhen. Drei Reisende und vier Armlehnen; Fenster- und Gangplatzsitzer entwickeln natürlich, beflügelt durch ihre vermeintliche Vormachtstellung in Form wenigstens einer sicheren Armlehne sehr bald genug Chuzpe um nonchalant auch die weitere mögliche Lehne zu erobern und zu halten – einerseits aus Dominanzgehabe und unverhohlenem Sadismus natürlich, aber auch ganz praktisch um in diesem Mikrokosmos Lebensraum zu erringen, um Flugreisen, die ja per se recht strapaziös sind, auf Kosten anderer ein Stück weit behaglicher zu gestalten. Gelegenheit und Wille zur Macht lässt Flugreisende Imperialismus und Wolfsgesetz in Reinkultur ausüben. Dabei wäre es Flugzeugdesignern, wenn sie denn wollten, ein leichtes, diese Quelle der Zwietracht versiegen zu lassen.

Selbstverständlich buche ich persönlich nie Mittelplatz und beteilige mich an der Demütigung des armen Mittelplatzwürstchens – zumeist Komplettversager, die Focus lesen und Fanta trinken – durch enervierend behindertes Lesen von möglichst voluminösen Tageszeitungen, die ich binnen Minuten, nicht selten noch vor Abheben des Flugzeuges, in ein unablässig knisterndes sowie ungemein sperriges und minütlich wachsendes, vielflächiges Papiergebilde von amorpher Form zu verwandeln pflege.



6. März 2011