Walther-Schreiber-Platz

Mensch Werner, denk doch mal nach! Jetzt ein großes Ding drehen und dann den Rest des Lebens auf Highlife machen. Alaska-Frank war ans Küchenfenster der Einraumwohnung getreten und blickte hinab in den dunklen Innenhof des Hauses, dort spielten zwei bleiche Kinder mit einer defekten Landmine, in einer braunen Pfütze schwammen zerdrückte Blisterverpackungen. Werner schwieg. Er saß an einem mit Resopal bezogenem Küchentisch und hatte ein Sudokuheft parallel zur Tischkante ausgerichtet. Im Schuppen unten im Hof quiekten die Schweine. Wir spazieren da rein, nehmen die Piepen und machen die Biege, so einfach ist das! Alaska-Frank trug einen modischen Kurzmantel aus Nutriafellen, der vorne mit goldenen Spangen zusammengehalten wurde sowie eine entsprechende Mütze an der eine Kokarde millitärischer Provenienz befestigt war. Du, sieben Jahre Kittchen reichen mir, ich bin bedient hör mal, nimm den ganzen Zinnober und sieh zu, wiede Land gewinnst und zwar pronto bitte, sonst mach ich dir Beine. Werner deutete mit dem Kinn auf die zehn Büchsen Schellfisch und die kleine Flasche Rübenschnaps, die Alaska-Frank mit einer gönnerhaften Geste vor ihm aufgebaut hatte. Es war Ende November, die Wohnung war kalt. Vor den Mündern der Sprechenden hatten sich Kondenswasserwölkchen gebildet. Die Wände waren mit einer Kunststofffolie bezogen, die Delfter Kacheln vorstellen sollte. Nu mach mal halblang Mensch, man wird ja wohl noch einem alten Freund helfen dürfen. Alaska-Frank hatte sich einen Stuhl herangezogen und die Flasche geöffnet. Seine Augen waren wässerig, unergründlich und von einer schlammhaften Farbe. Jetzt trinken wir erst mal ein Gläschen – auf die Freiheit. An der schlecht verheilten Stelle an Werners Hals, wo ihm vermittels einer Kanüle und Kugelschreibertinte eine Schwalbe gestochen worden war, hatte sich ein Tropfen Eiter gebildet, der nun zögerlich hinabrann.

Eine schmutziggelbe Sonne versank irgendwo. Vor dem seit Jahren ungeputzten Küchenfenster war ein schmaler vertikaler Streifen Stadtlandschaft sichtbar, der von zwei feuchten Brandmauern flankiert wurde, die mit grünlichen Schleimalgen bewachsen waren; dazwischen Reste von abgeblätterter Werbung für Lenovo und 7Up. Orgelpfeifenartig angeordnete Metallzylinder, die der Altölverstromung dienten, aus denen fauchend und schön rhythmisiert mächtige Flammenpilze in den vergilbten Himmel schossen, gefolgt von schwarzem, öligem, sich zu blumenkohlartiger Form aufplusterndem Qualm, der die Stadt mit einem klebrig grünbraunem Rußfilm überzogen hatte. Ein Werksgelände, auf dem ausgemusterte rostige Raumtransporter in Bambus eingerüstet lagen. Arbeiter, die verlumpte, einst orangefarbene, mit Kennzahlen bedruckte Drillichanzüge trugen. Das Gleißen der Schneidbrenner im Akkord. Sirenensignal, scheppern von Lautsprechern. Reisausgabe…



10. September 2011