Deindustrialisierter Transitraum für Panzer

Man muss den Sommer ausnutzen, diese Tage sind rar, sagt ein Mann zu einer Frau, die ein Ehepaar bilden und sich in dieser Konstellation müßig im Freiland aufhalten. Das Mienenspiel des Mannes lässt keinen Zweifel daran, daß er alle Strahlung allein zu absorbieren wünscht, bis die Sonne nurmehr ein von Antimaterie geprägter Todesstern ist.

Rechterhand liegt ein schmutzig ausgetretener Hang der zu einer ausgedehnten Sozialsiedlung ansteigt, die mit der Zeit unter einer Schicht von Moos und Algen vermoderte. Schemenhaft sind auf Gefährten herumkurvende Halbstarke zu erkennen. Sie formieren sich zu einem Symbolbild mit unklarer Aussage. Deutungsversuch: Wer von hier gegen Osten fährt, kann tausende Kilometer fahren, das Bild wird stets das gleich sein: Agrarsteppe, Krüppelkieferkonglomerate und vom Panzerkrieg verheerte Infrastruktur – Hühnerdiebe, leichte Mädchen und Rübenschnapsbrenner – Ostblock von Brandenburg bis zum Ural. Mühsam muss der kargen Scholle jede einzelne Feldfrucht abgetrotzt, gleichsam entrissen werden. Viehhaltung fällt weitgehend flach wegen der Wölfe. Aus den Sümpfen steigen schwarze Wolken von Mücken auf. Ein Güterzug hat Schmieröl und Filz geladen; die Waren wurden in einem Zwangsarbeiterlager im Wald hergestellt. Die Lage ist ruhig aber gespannt. Das Volk ist schwachsinnig und duldsam.

Was Berlin auszeichnet und von jeder beliebigen anderen im Osten gelegenen Stadt unterscheidet, ist zum Einen seine räumliche Ausdehnung und überlegene Population, vor allem sind es aber seine konzeptionellen Grundfesten, quasi seine raison d’être: Schmutz, Verbrechen und menschliche Kälte. Und dies auf hohem, auf höchstem Niveau, auf Weltniveau! Begreifen wir dies also, ähnlich wie einen eisfreien Hafen, als Standortfaktor, wie es an einem Tag, an dem Kaiserwetter herrscht, die herrliche Aussicht vom Großglockner ist, oder eine frische Atlantikbrise, die uns in Westerland überraschend ins Haar fährt, in einem sehr niedlichen Strandbistro, beim Verzehr von Windbeuteln.

Wie ich in den Bergen die unscheinbaren Steige jenseits der Baumgrenze liebe, die bestenfalls die Gemsen gehen über denen eher noch ein scheuer Greif seine Schwingen spreizt, so zieht es mich im märkischen Moloch in jene abgelegenen Straßen für deren Namensgebung selbst fränkische Kleinstädte und unbedeutende expressionistische Keramikerinnen verschwendet schienen, da hier von schorfigem Rostwasser morbid gezeichnete Kühltürme wie abstrakte Dolomiten in den Himmel ragen, einen von Feinstäuben dauerhaft bedeckten Himmel, in den sich in rascher Folge Passagierflugzeuge krängend und emissionsreich erheben. Die Reisenden tragen Schuhe aus Antilopenleder, es sind ausschließlich übergewichtige und stark transpirierende Sextouristen sowie geldgierige Rohstoffhändler, die im Urwald von ausgemergelten Negersklaven seltene Erden ausgraben lassen.

Wo dioxinlastige Klärschlämme und höchst infektiöse Krankenhausabfälle aufbereitet werden, wo hinter elektrisch geladenem Natostacheldraht, zwischen turmhoch gestapelten Unfallwagen mit blutigen Polstern tolle Hunde toben, denen gelbgrüner Speichel von den Lefzen weht, da gehe ich und trage einen tarnfarbenen, stutzerhaft geschnittenen Spencer aus Funktionsgewebe. In Gedanken ziehe ich vor den Gewerbetreibenden freundlich den Hut, die hinter zwar stark korrodierten aber gänzlich geräuschisolierten Garagentoren Gewaltpornos aufzeichnen oder Heroin mit Bleistaub veredeln und in handelsübliche Portionen auswiegen und dabei 7Up trinken. Tatsächlich sehe ich niemanden, doch folgen mir die schrittmotorgesteuerten Haifischaugen von Videokameras, die die erbeuteten Abbilder in höchster Auflösung, jeglichem Datenformat und bester Farbtiefe für alle Ewigkeit speichern. Man munkelt, es gäbe hier auch sehr dunkle und mit Giftschlämmen verschleimte Tunnelsysteme in denen fieberhaft gesuchte NS-Kriegsverbrecher, Crackjunkies und mutierte Tausendfüßler leben. Selbstverständlich sind die Eingänge mit blossem Auge nicht zu erkennen, da sie einerseits von implodierten Röhrenfernsehern und körpersaftgesottenen Altkleidersäcken verkeilt, wie auch von Knöterich und Ambrosia überwuchert recht verwunschen liegen.

Linkerhand, gleichfalls unsichtbar, da von Krüppelkiefern kaschiert, rauscht ein Autobahnkreuz und schließt eine Möglichkeit von Meer ein, als ließe sich erwartungsvoll über eine sandige Anhöhe gehen, über einen Dünenscheitel, an dem sich die Krüppelkiefern mehr und mehr lichteten und schließlich ganz verschwänden zugunsten von Strandhafer und hellem Seesand. Es gellte jäh der Ruf von Seevögeln, eine ölige Dünung schwappte träge an Land, der ferne, von Seewind verwehte Diskant einer gedungenen Kurkapelle erklänge. Pommes Frites, Softeis und mit elektromechanischen Schwänzen wedelnde Plüschhunde würden feilgehalten. Einige weiße Öltanker und schwarze Zerstörer verharrten scheinbar am Rand der Scheibe, auf Deck die jeweiligen Besatzungen, die das Fortströmen des Wassers voll wohligem Schauder mit Ferngläsern beobachteten.



8. September 2011