Coco

Da die nautischen Bedingungen weiterhin günstig sind, lässt man alle Maschinen höchstmögliche Leistung erbringen, sodass unser Schiff mit voller Fahrt die Wellen pflügt. Durch mein Kabinenfenster sehe ich vielgestaltige Wolkengebilde entstehen und vergehen, sehe wie düstere Wellenberge emporwachsen, unwirtlichen Gebirgen gleich, die sodann fließend zusammensinken, als strömten in Sekundenbruchteilen Erdzeitalter vor meinen Augen vorbei. Den steingefassten Augen eines uralten Betrachters auf krängendem Standpunkt. Mit Gin und Laudanum gelingt es mir leidlich meine latente Seekrankheit zu bezähmen. Dergestalt medikamentös eingestellt, stehe ich achtern und blicke in das grüngraue gischtige Brodeln der Schiffsschrauben. Es riecht nach frischer Farbe. Allweil hält man die Matrosen dazu an zu streichen.

Mein Schreck ist den Umständen gemäß gedämpft, als ein Negerjunge von vielleicht zwölf Jahren, der wohl im Schutz eines Schotts schon länger stillgestanden war, hinterrücks an mich herantritt. Der Junge ist relativ klein von Wuchs und feingliedrig. Um seinen Hals baumelt eine goldene Kette, die einem ebenfalls goldenen Kruzifix als Aufhängung dient. Ferner ist ein ledernes Banderl um seinen Hals geschlungen, daran ein durchbohrter, vermittels Roringstek befestigter kleiner Knochen ungewisser Provenienz, den Salz und Sonne zu kalkig porösem Weiß erblassen ließen. Verzeihen Sie, Herr, er vollführt einen hastigen Diener, mein Name ist Coco. Von Anbeginn an, seit Sie in Hamburg einschifften, beobachte ich Sie. Nur hier, abseits der bösen Augen, kann ich aus dem Schatten zu Ihnen treten. Er ist mit einer abgeschnittenen, an altersbedingten Fransen reichen Armeehose bekleidet, aus der schlanke knabenhafte Beine von makellos ebenholzartigem Teint ragen. Die Füße sind in Proportion zu seinem Körper ziemlich groß. Ich denke, sie ermöglichen es ihm, behände auf Palmen oder durch Takelagen zu klettern.

Er bedeutet mir ihm zu folgen und ergreift zudem schüchtern meine Hand. Wir steigen über mattgrün lackierte Metalltreppen, durch immer niedriger werdende Türstöcke hinab in die dumpfige Hitze des metallenen Rumpfes. Das Malmen der Zylinder ertönt hier völlig ungedämpft, wie das Herz eines virilen Tieres aus Stahl. Der Frachtraum – ein Labyrinth aus vertäuten Holzkisten und einst grell und werblich lackierten Containern, auf denen jetzt der Rost blüht. Ich folge dem Jungen durch engere und verzweigtere Gänge, deren Wände sich aus Frachtgut bilden, bis zu einer Art primitiven Höhle, einer Bettstatt aus Säcken und Kartonagen, schummerig beleuchtet von einem niedergebranntem Stumpen in einem staubigen Weckglas. Sehen Sie, Herr – der Junge öffnet vor meinen Augen eine mit Ölpapier ausgeschlagene Schachtel, die er flink einem finsteren Winkel des Schiffsbauches entnommen hatte.

Ich sehe die mumifizierten Überreste eines Tieres, augenscheinlich die eines Rhesusaffens, der, embryonal zusammengerollt, am Boden der Schachtel liegt. Die Haut des Tieres ist an vielen Stellen kahl und von der Beschaffenheit zerknüllten Pergamentes, faltig also, ledrig und gelbgrau. In den Ecken der Schachtel haben sich Haare gesammelt, die teilweise von einer talgartigen Substanz zusammengehalten werden. Soweit es das Schummerlicht erlaubt, vermeine ich am Boden der Schachtel vereinzelt kleine Käferchen umherflitzen zu sehen. Ich bemühe mich, flach zu atmen.

Der Makake sei sein einziger Kamerad gewesen, ein Baby sei er gewesen zu Beginn. Coco habe den Makaken unter seinem Gewand verborgen, ganz still sei er dort gesessen, habe sich angehalten, als man ihn – Coco – fortgenommen habe, so Coco wörtlich. Als der Makake matter wurde und nicht mehr atmete und schließlich sein kleines Herz zu schlagen aufhörte, da habe Coco den Makaken in einen nicht einsichtbaren Winkel nächst der Maschine gelegt und ihn solange gewendet, bis die Hitze der Motoren ihn gänzlich getrocknet hatte. Immer darauf bedacht, selbst nicht entdeckt zu werden, wie unausgesprochen deutlich wurde.



4. April 2012