Semmering I

Die Städte, die wir unter uns zurückließen waren erleuchtet. Wir saßen so, daß es nach Chanel No. 5 und Apfelshampoo roch. In Beates Schoß lag ein Minidiscplayer.

Man rief fortwährend, ich tat als hörte ich nicht, aber mit der Zeit wurde mein Sträuben schwächer und ich folgte dem Ruf.

Bei der Durchfahrt durch Franzensfeste hatte ich gierig eine Oxycontin mit den Backenzähnen zerbissen und das geröllgleiche Granulat geschluckt. Nun blickte ich aus dem Fenster des langsam und wattig fahrenden Zuges. Ich sah ein Haus, das sonnenbeschienen vor einem fichtenrauen Hang stand. Im Garten des Hauses stand eine Schaukel, auf der ein kleines Mädchen saß. Auf dem Hochpunkt einer spielerischen Parabel war das mit einem karierten Kleide bekleidete Kind gleichsam erstarrt. Das Haar emporgewirbelt, sodass die flachsgelben Zöpfchen vor einen hellblauen Sommerhimmel standen an dem Wolkenhaufen innehielten. In munterer Stimmung war ein weißer Hund herbeigesprungen, sein Lockenkleid war in ausgelassener Bewegung geronnen. Einige Zeit glühte dieses entschleunigte biedermeierliche Bild vor meinen Augen, noch in einen bleiernen und zugleich unruhigen Schlaf hinein, aus dem zu Erwachen leidvoll sein würde.
Als die Eisenbahn mit klagenden Bremsen in die Station Mürzzuschlag einfuhr, öffnete ich mürrisch meine Augen und eine blasse Eidechse, die in den nachlassenden Strahlen der sinkenden Nachmittagssonne an der Wand des Bahnhofsgebäudes gesessen war, kroch träge in eine Furche des mostrichfarbenen Rauhputzes. Mechanisch die Uniformmütze aufsetzend, war ein Stationsvorsteher aus der Dienststube hinausgetreten auf das Perron, das auf Grund der Tallage schon länger in blauschwarzem Schatten lag.
Während ich schlief hatte sich eine Frau auf den mir gegenüberliegenden Fensterplatz gesetzt. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute in ein Rätselheft. Ihr Gesicht sah ich zunächst nicht, wohl aber einen opulent mit künstlichen Früchten verzierten breitkrempigen Strohhut von moosgrüner Färbung. Eine Kirsche am Rande der Krempe war beschädigt, der Lack war hier auf einer kleinen Fläche abgeplatzt und legte das durch filigrane Drähte stabilisierte Innere der falschen Frucht frei. Die für mich sichtbare Hand der Frau war von edler Form, ja von regelrecht anämischer Zartheit, wobei ich gleichwohl einen Anflug von Faltenbildung gewahrte. Bei näherer Betrachtung erwies sich der dottergelbe Kugelschreiber, mit der die Frau Lösungen in ihr Rätselheft eintrug, als ein Werbegeschenk der Raiffeisenniederlassung St. Pölten.

Beate trug dottergelbe Jeans von Fiorucci und goldene Sandalen von Prada. Das Dorian Gray an einem Sonntagvormittag im September. Wir tranken Manhattans und fixierten entrückt die von Rundumlichtern beleuchtete Tanzfläche. Als die Wirkung des Ketamins nachließ, tanzten auch wir zu Giorgio Moroder. In den Lichtern der Diskothek schienen Beates schöne Füße alternierend wie aus violettem, respektive hellblauem Marzipan geformt.
Später fuhren wir mit der Rolltreppe auf die Aussichtsplattform des Flughafens. Gegen Sieben stand die Sonne tief, es war aber noch warm. Wie immer vor Langstreckenflügen rauchten wir Shore. Ich hielt für Beate das Feuerzeug und ließ für sie den güldenen Tropfen über die Folie wandern.
Reisen, das moderne Reisen ist Krieg. Die totale Verwirklichung der kühnsten futuristischen Konzepte, ein Krieg gegen Raum und Zeit, der sehr radikal von der Luftfahrt geführt wird. Rollfelder sind Kriegsschauplätze und die Luftfahrt ist die potenteste zivile Raumvernichtungsmaschine. Ein Einsteigen in diese mit gestohlener Energie betriebenen Vehikel erschien mir seit jeher ohne Betäubung undenkbar, als ein ungeheuerlicher Pakt dessen vollkommenes Verschriebensein sich nur in der Betäubung, und auch so nur vor mir selbst, abschwächen ließ.
Ich trug ein brombeerfarbenes Hemd von Seidensticker, mein Oberkörper lagerte gebeugt über die in der Abendsonne glühende Ballustrade; ich trank einen Cobbler und blickte auf das Rollfeld. Menschen, Einzelpersonen, kleine Gruppen gingen über den Asphalt auf eine lauernde Maschine zu, silhouettenhaft und grob, wie aus kaltblauem Papier gerissen. Ein Bild gewaltiger Schönheit.

Grundlegend ist die Semmeringstrecke ein beachtliches modernes Gesamtkunstwerk, das zunächst die Unterwerfung der Wildnis durch Maschinen vorstellt. Thermodynamik spülte aus dem östlichen Tiefland einigen Nebel empor, in dem sich späte Strahlen mystisch streuten. Als unweit des Kurortes Semmering die Bahn aus einer Tunnelgalerie hinausfuhr, stoben die Nebel plötzlich wagnerhaft auseinander, und da lag, etwas unterhalb der Bahngleise, das emblematische, von Rissen und Fäule durchzogene Südbahnhotel im bronzenen Glanze, gerahmt von gebändertem Gneis. Wie wohl kein zweiter Ort führte mir der Semmering Zeit meines Lebens das Transitische des Reisens als inneres Erlebnis greifbar vor Augen. Namentlich für den Reisenden, der den Semmering von Westen nach Osten passiert, ist die Fahrt gen Tiefland auch ein metaphysisches Hinabsteigen. Mit jedem Viadukt, mit jedem Tunnel den der Zug talwärts passiert, kochte aus dem Mischwald am Fuße des Bahndammes mehr und mehr Nebel empor und drang auch in die schwarz gähnenden Fensterhöhlen der aufgelassenen Streckenwärterhäuschen ein um sich dort tentakelhaft über alles Moderaffine zu legen und in die süßlichen Schwarzschimmelpolster zu kriechen auf denen die jeweiligen Streckenwärter bis zuletzt traumlos schliefen, von Inländerrum betäubt.
Einen Augenblick später sah ich weißglühende, frei flottierende Pünktchen mit flammendem Hof. Vor meinem Auge wanden sich sieben feiste blaue Salamander ineinander, ein Gemenge nicht deutlich einem Molche zuordenbarer Gliedmaßen. Ein Gelispel und Geflüster hob an, die Glissandi gläserner Glöckchen erklangen, rein wie Kristall. Als das Bild verblasste, war die Frau mit dem Kirschhut verschwunden. Zurückgeblieben war nur der dottergelbe Kugelschreiber und ein mit Noppenfolie gepolstertes Kuvert, das ich, da ich keinen Moment daran zweifelte, daß das Kuvert für mich bestimmt war, mit klammen Fingern erbrach und darin einen Funkschlüssel fand, den ich an mich nahm.
Schließlich überwucherten nur noch Autohäuser und Schnellimbisse ein formloses Tiefland, das der Nieselregen benetzte; ein müder Regen, der sich einer inspirationslosen Vorsehung folgend, klaglos in Drainagesystemen erfassen und einer rechnerisch begründeten Funktion zuführen ließ.
In Wiener Neustadt zogen zahlreiche resignierte Gesichter an den Eisenbahnscheiben vorbei, da Dienstschluss ein Gedränge hervorgerufen hatte. Gesichter, Gesichter, Gesichter – es herrscht ein Überfluss an Menschen, die alle auf rare Ressourcen zuzugreifen wünschen und auch noch einen vagen Anspruch auf Glück hegen. Ein Mensch trank einstweilen in kleinen Schlucken aromatisiertes Mineralwasser der Marke Vöslauer, da ihm der Saugstutzen der Sportflasche einen, wenngleich nur matten, Abglanz frühkindlicher oraler Wonne verschaffte. Ein anderer Mensch war ganz grün im Gesicht vom Rauch schwerer Ostblockzigaretten; wie viele verbarg er die Schärfe seiner dinarischen Physiognomie unter einem Mantel aus Schweinefett, der stetig von existenziellen Sorgen geknetet wurde.
Der Zug hatte auf einer Ausbaustrecke Fahrt aufgenommen. Aus einer Freitagtasche waren zahlreiche struppige Hühner entflohen, die aufgeregt im Abteil umherflatterten. Unergründliche Reisende, die mir letztlich holzschnitthaft blieben, boten frisch geräuchertes Ziegenfleisch und Pflaumenschnaps aus abgewetzten 7up-Flaschen an und sangen zu Ziehharmonikabegleitung aus naturgemäß rauhen Kehlen ehernes Liedgut, wobei vereinzelt auch Goldzähne aufblitzen. Wir hatten unter vollem Dampf den Marktflecken Ugórny Gronsk passiert und die Eisenbahn fuhr seit Minuten an der eintönigen Fassade eines vielstöckigen Geflügelmastbetriebes vorbei. Die Luft war erfüllt von umherstiebenden feinsten Flaumfedern, die in ihrer Summe die Sonne verfinsterten. Mir gegenüber saß in stattlichem Uniformrock ein Ulane auf Heimaturlaub, dem standen die Schweißperlen auf der Stirne und vom Schnauz troff träge die Bartwichse, da der Waggon, wie mir plötzlich bewußt wurde, unerträglich stickig und überheizt, die Fenster jedoch mit pendelnden Vorhängeschlössern versperrt waren. Ich rief den Zugbegleiter und ließ mir ein Glas Zweigelt bringen um zwei Tramadol hinabzuspülen.



2. April 2013