Baron Waldsteiger und der geheimnisvolle Siegelring

Man schrieb den 28. November, draußen, in den einsamen Hügeln des schottischen Hochlands, verhüllten dunkle Wolken den silbrig schimmernden Vollmond. Nachdenklich schnippte Baron Waldsteiger ein Aschestäubchen vom Aufschlag seiner umbrafarbenen Gabardinehose. Ein steifer Nordost peitschte eiskalten Schneeregen an die Butzenscheiben der Bibliothek von Lord Rory Malmesbury. Die jährlich nahe Cawdor Castle stattfindende Pferdeausstellung war für Baron Waldsteiger der Anlass für seine Reise auf den abgelegenen Jagdsitz des alten schottischen Adelsgeschlechtes gewesen. Baron Waldsteiger war selbst mit zwei seiner besten Lipizzanerstuten bei der Rassepferdeschau vertreten. In den dunklen Ledersesseln von Lord Malmesbury hatte sich an diesem unwirtlichen Herbstabend eine Runde illustrer Herren versammelt, die die Liebe zu Rassepferden teilte. Pferdenarren wie sie im Buche stehen, die sich zu vorgerückter Stunde an edlen Zigarren und bestem Whisky schadlos hielten. Auf Hochglanz poliertes Mahagoniparkett, kostbare persische Läufer und eine umfangreiche Sammlung historischer Jagdgewehre. Die Wände des jahrhundertealten Gemäuers ausgekleidet mit dunklen Bücherregalen aus Ebenholz, darin die köstlichsten Erstausgaben namhafter Autoren in bester Ausstattung; fast ausnahmslos ledergebundene Folianten mit Goldschnitt. Eben hatte die Stutzuhr auf dem aus Eiche gearbeiteten Kaminsims zur elften Stunde geschlagen, als auf dem Vorplatz die Reifen eines Range-Rovers den Kies knirschen ließen. Matthew Purdence, das Faktotum, hatte den Wagen nachlässig geparkt und stapfte in klobigen Gummistiefeln, den Kragen der urigen Öljoppe hochgeschlagen, seelenruhig seine Pfeife schmauchend durch den Regen, den grasbewachsenen Hang hinab zu seiner Einliegerwohnung, einem an den Stall grenzenden Nebengelass.

Baron Waldsteiger war von einer plötzlichen Unruhe getrieben an die großzügige Fensterfront getreten und sah versonnen in den Nebel. Gedankenversunken fuhren die Fingerkuppen des Barons über das gläserne, in Blei gefasste Familienwappen derer von Malmesbury. »Die Sache schmeckt mir nicht«, schoß es Waldsteiger durch den Kopf und seine grauen Schläfen glänzten malerisch im herbstlichen Mondlicht. Seit er auf einer Forschungsreise nach Sumatra von einer Kokosnuss ungünstig und höchst schmerzhaft am Kopf getroffen worden war, verfügte der Baron über außersinnliche Wahrnehmung, die sich stets als ein charakteristisches Summen im Kopf ankündigte. »Sir, darf ich nachschenken, Sir?« Von Waldsteiger zunächst unbemerkt war eine bildhübsche junge Frau mit alabasterfarbenem Dekolleté an ihn herangetreten, die blonden Haare zu einem stattlichen Dutt hochgesteckt, in ihrer Hand eine bernsteingleich schimmernde Whiskykaraffe aus Kristallglas. Es handelte sich um Abigail Swinton, die irischstämmige Haushälterin, deren grüne Augen den Baron nun verführerisch anfunkelten. Im Hintergrund, am Kamin, schickte sich Lord Rory Malmesbury unter großen Gesten an, eine weitschweifige Anekdote aus dem Koreakrieg zum Besten zu geben, als plötzlich ein markerschütternder Schrei die abendliche Harmonie jäh zerriss und gleichzeitig sämtliche Lichter im Hause erloschen. »Herrjemineh, Potztausend!« oder »Par bleu!« so machten die, wie begossene Pudel nun in der Finsternis sitzenden Herren ihrer Verwunderung Luft, dabei nach Fidibussen oder silbernen Feuerzeugen tastend. Nicht so Baron Waldsteiger, der mit einem Satz bei seiner Bereitschaftstasche war und aus dieser im Nu eine schwarze Hochleistungstaschenlampe praktizierte. Zack! Im gleißenden Lichtkegel der vorzüglichen Profilampe war Abigail Swinton auszumachen, kreidebleich und zur Salzsäule erstarrt, die kostbare Karaffe natürlich in tausend Scherben zersprungen. Eine heikle Situation, die Waldsteiger — wie immer — zu Höchstformen auflaufen ließ, jede Sehne, jeder Nerv angespannt, eilte er wieselgleich die rustikale Freitreppe des Landsitzes hinauf, der Quelle des schrecklichen Schreis entgegenstrebend.



28. November 2006