Sozialistischer Realismus

Am Nachmittag vor dem bedeutenden Fußballspiel sah ich eine kleine Frau mit vielen Reisetaschen, Tüten und einem Rucksack auf dem Bahnsteig bei den Mülltonnen. Manche der Fußballfans die hier aussteigen sind schon blau und grölen, die meisten haben Bierpullen in der Hand. Die Frau ist extra angereist aus Ostberlin wegen der leeren Flaschen. Daß sie aus Ostberlin ist, erkenne ich an ihren Dederonbeuteln. Sie hat sehr viele Flaschen gesammelt, vor allem in diesen großen kubischen Einkaufstaschen aus geflochtenen blaurotweißen Plastikfäden. An der Leine hat sie einen kurzbeinigen weißen Hund mit schwarzem Punkt auf dem Auge. Als er sehr bibbert, nimmt sie ihn auf dem Arm und wiegt sich – die Augen geschlossen – mit dem Tier wie es die Verliebten tun. Und im Hintergrund steht die Polizei dabei, hochaufgeschossen und alert, in mitternachtsblauen Uniformen mit schwarzen Helmen und wirft ein gestrenges Auge auf die grölend in die Ränge der Kampfarena stampfenden Bacchanten. Sie sagt zu einer Stimme aus dem Off, daß oben am Stadion sehr agressive Männer stünden, die sich um die dort aus Sicherheitsgründen abzugebenden leeren Flaschen balgen würden. Eine Art Leergutmafia, von der sie auch schon körperlich bedroht worden sei. Sie trägt eine hellgrau halbtransparente Brille aus Hornimitat, die Haare sind helmartig frisiert und sie riecht nicht unangenehm wie der kleine Metallkasten mit Wachsmalstiften, den ich als Kind mal hatte. Ort und Zeitpunkt – kurz vor Anpfiff, unten auf dem Bahnsteig – ist die Nische, die die kleine Frau von kugeliger Statur selbstbewußt wie ein sich plusternder Darwinfink besetzt. Ein Hund der devot von ihrem Arm aufblickt und bald fünf Taschen voller Flaschen, deren Inhalt nun heiß und gluckernd die Harnblasen sportbegeisterter Arbeiter bläht.



2. Februar 2008