Auf dem Balkon
Meiner Stadtwohnung ist ein Balkon vorgelagert, der sich nach Westen öffnet. Eine Brüstung aus nach oben abgerundetem Beton, scheidet den Hinaustretenden, in die Spätsommersonne Blinzelnden von der Tiefe. Noch vor wenigen Tagen war die brusthohe Brüstung noch nachts handwarm von der tags gespeicherten Sonne, daß sich der Rücken an den nackten Beton legen und behutsam gen Abgrund überdehnen ließ, bis es zart knackte. Das Wasser sinkt zurück, bald gelb, bald rotbraun schleicht sich der Verfall in die Decke der Baumkronen. Und an einem Nachmittag, als ich auf dem Balkon in einem Stuhl sitze, an einem Tisch aus Holz und eine Madeleine in eine vornehme Kaffeetasse tauche, hebt hinter der Brüstung – die, so sitzend, das Blickfeld des Sitzenden zu einem stillen, aber nicht stillstehenden Panoramarechteck aus von Wolken überschliertem und von glühenden Flugzeugparabeln durchschnittenem Cyan ebenso verengt wie erweitert – ein Getöse an, der anschwellende Gesang von Martinshörnern zunächst, dann das hastige Geräusch von Stiefelabsätzen und knappe, so wohl als professionell geltende, einem wohl berufsintern geltendem ungeschriebenen Code gemäße, barsch ausgestoßene Kommandos. Auf dem Parkplatz stehen Männer, angetan mit mutmaßlich schwer entflammbaren Uniformen, die sich routiniert himmelblaue Gummihandschuhe überstreifen. Über einhundert Balkonbrüstungen lehnen Schaulustige; die Köpfe schießen gleichsam pilzgleich hervor, um sodann, sich der Schwere hingebend, stier blickend gen Geschehen zu sinken. Der Ausleger eines zwischenzeitlich in Positur gebrachten Leiterwagens, an dessen Ende ein – ein bis zwei Feuerwehrmännern fassender – Korb aus Leichtmetall befestigt ist, auf dessen Seitengestänge eine reinlich weiß bezogene Bahre in ein offenbar raffiniertes Bajonettsystem eingeklinkt wurde, ruckt, einem sedierten Roboter nicht unähnlich, zögerlich, doch zweifelsohne zielgewiss gegen ein Wohnungsfenster im ersten Stock. Man weiß nicht was vorgefallen ist tuschelt man, das Leben ist von Anonymität geprägt so die Nachbarn – sinngemäß – und die Stimmen verebben, als nach einiger Zeit eine fahle, partiell von blauschwarzen Malen gezeichnte Frau, auf mechanischem Luftbett zur asphaltüberzogenen Erde schwebt; als ein abstraktes Fleisch sanft in die Gummihände von Sanitätern fällt und jäh ein Strahl Regensonne in ihr starres Gesicht fährt. Der Blick aus den eintausend Augen nach unten, ihr Blick, so sie denn blickt, nach oben; ein Bild für irgendetwas, das sich da und dort einbrennt in Hirnmasse. Und ich halte ein Süßgebäck in der linken Hand, halb hinter der Brüstung, als wäre es ein Glas Burgunder in dem Erdbeeren schwimmen.
3. September 2009
Ich möchte sagen, dass dies der aufregendste, zumindest aber subtil pornographischste Text ist, den ich je in Ihrem Journal gelesen habe.
Gerne übrigens.
Besonders diesen.
Wer ist denn Madeleine?