Die A
Die A bewohnt eine Einliegerwohnung unter dem Dach, deren Nutzfläche fünfundachtzig Quadratmeter beträgt. An schönen Semptembertagen etwa, wenn sich der Himmel makellos hellblau und recht freundlich über der stattlichen Alpenkulisse präsentiert, man allenthalben den Wanderschuh schnürt und ein milder Wind von Italien her geht, verlasse die A ihre Wohnung nicht, wohl aus Prinzip und psychischer Disposition, und halte die Fenster fest geschlossen, ferner seien die Vorhänge zugezogen – darin läge wohl auch maßgeblich ihr fahler Teint begründet. Man höre sie kaum gehen in ihren Räumen; die A gleicht einem Hausgeist oder einem scheuen Waschbären lässt sich dem entnehmen, was über A gesagt wird.
Eines Abends, da die Wipfel der Tannen schwarz und unruhig vor dem Fenster wogten, gewahrte ich durch die angelehnte Stubentüre, wie ein mit einem Damenschuh in Trachtenoptik bekleideter Fuß vorsichtig tastend und – aufgrund von nachttierhafter Routine – bar jeglichen Knackens auf die vom Dachgeschoss steil herabführende Treppe aus Eibenholz gesetzt wurde. Der Spann des Schuhs war mit einer schön ziselierten Silberspange besetzt, soweit im Zwielicht und bei allem Willen zur Wahrung der Intimsphäre erkennbar war; der Fuß gehörte zweifelsfrei der A – wie sich unschwer schließen und kurze Zeit später auch beobachten ließ – die auf Vollgummisohlen weitgehend lautlos durch das Vorhaus in Richtung Garage schwebte, kalkweiss geschminkt und angetan mit einem burgunderfarbenen Dirndl, ihrem Ruf gemäß twinpeaksartig und somnambul. Es seien stets jene nasskalten Nächte, wie es diese Nacht ist, die von flatschig herniedergehendem Schneeregen bestimmt ist, die die A nutze, um mit ihrem japanischen Kleinwagen auszufahren, der – bei Tage besehen – in der Farbe geronnenen Ochsenblutes lackiert ist. Zudem mit unbestimmten Fahrtziel, wie man mutmaßt und mit gedämpfter Stimme auch gegenüber Dritten äussert. Über Bergstraßen, auf denen oft Sichtweiten unter fünfzig Metern herrschen, wie anzunehmen ist, führe die A; auch auf Straßen, deren Asphaltdecken nicht selten bereits vor Allerheiligen mit einer filmartigen Eisschicht im Mikrometerbereich überzogen sind – wenn nicht gar auf Forststraßen, mittels Betonröhren von frischen Bächlein unterquert, die sich, trotz aller Unwirtlichkeit in Form von Totholz und Dornengespinsten, dieser ganzen vermoosten und finsteren Feindlichkeit der von Murengerümpel völlig verstellten Wildnis, munter sprudelnd Bahn gen schwarzes Meer brechen.
Das schwere Gravitationsmonster aus Stein gebiert menschgemachte Schwere, die Gemütlichkeit vorstellt: also moosgrüne, eigentlich schwarzbraune Kachelöfen, schmiedeeiserne Ampeln, dunkelgebeizte Kästen und Tramdecken, Schnitzwerk, Irdenes, Wollenes, Sammelteller als Träger von Illustrationen, die Waidwerk und fanatisches Bergbauerntum verherrlichen, rehbraune Polster mit alpenländischer Stickarbeit reichlich verziert und einhundert Trophäenbretter mit angenageltem Geweih. Ein uriges Stocknageluniversum, begeistert von einer Million untoter Bambischädel, deren Seelen wohl in Elfriede Jelinek reinkarnierten.
Als ich einmal ein Lebensmittelgeschäft verließ – kein Plastiksackerl zur Hand – folglich die Arme voller Brot und Fett, standen vor dem bleigrauen Schneehimmel plötzlich schwarze Helikopter des Bundesheeres, fix und stoisch zugleich wie diese Vietnambrummer.
Die A hat jedenfalls alle, in ihrer als möbliert vermieteten Wohnung enthaltenen, Kästen und Polster in die Garage schaffen lassen, und durch neue Möbel ersetzen lassen. Moderne Möbel, bei deren Verarbeitung Leichtmetall, helle Buchenfurniere und ornamental mattiertes Glas Verwendung fanden. Man sagt, ihre Wohnung sei nun nach Feng-Shui-Prinzipien eingerichtet, die A sei eine Verfechterin des Feng-Shui-Prinzips und zudem überaus sensibel gegenüber Strahlungen und so. Führe sie mit ihrem Auto an einem der Häuser unten in der Kurve vorbei, so J über A, spüre sie das Unheil, das dort herrsche, wie sich ein dräuendes Unwetter in juckendem Narbengewebe bemerkbar macht. Hinter den Türen lege man dort Kälbern eine Kette um ein Hinterbein, zöge sie zwei Meter hoch in die Luft und schnitte ihnen, unempfänglich für die flehenden, hübsch bewimperten Augen, die Kehle durch. Der Dechant sei gekommen, als das Schlachthaus eröffnet wurde und habe das Haus und die Fleischhauer gesegnet.
Der Mensch selbst stirbt in der Regel wegen Schnellfahrens oder weil beim Abschruppen eines von Flugrost befallenen Balkonkastenhalters die Scheibe des Winkelschleifers birst und einzelne Werkzeugfragmente durch die Schädelplatte hindurch direkt in das Gehirn eindringen, das die Erben später mit dem Kärcher beigehen müssen. Man kann das alles in den Zeitungen nachlesen. Oder auf geschnitzten Schildern am Wegrand, die über vergilbte Männer berichten, die unglücklich auf Schneebretter traten oder bei der Gamsjagd durch spontane menschliche Selbstentzündung ehrenhaft vergingen.
1. November 2009