Unser Frieden heißt Krieg
Die Stimme des Vorsitzenden schallt von draussen herein, er spricht vom Hauptaggressor Amerika und seinem Vasall Israel. Die Ansprache wird zur vollen Stunde wiederholt werden. Ich bin mit einer dampfenden Tasse Schwarztee an die Fensterfront der Einraumwohnung herangetreten und blicke hinab auf die verschneite Siedlung Ganymed. Alle Balkone sind zum Kraftwerk ausgerichtet. Die Lokomotive pfeift zur Weiterfahrt. Der Bahnhof liegt bald neunhundert Saschen entfernt, auf halb drei, im Walde. Es ist fünf Uhr sechsundzwanzig, die Bewohner kehren zurück aus den Raketenwerken. Die Strasse zu den Hochhäusern ist von geneigten Laternenpfählen aus Beton gesäumt. Grünblaues Licht von Quecksilberdampflampen. Das Thermometer steht auf minus neunzehn Grad und fällt. Zwei Stunden Sonne täglich. Aus Lautsprechern verliest eine computergenerierte weibliche Stimme die Zeit, alternierend deutsch und chinesisch. Arbeiter der Hand und Arbeiter des Geistes, zu Fuß vordringend, oder rittlings auf Motorschlitten. Rund und neapelgelb steht die Sonne zur blauen Stunde über dem kieferrauhen Horizont der Taiga und die Kühlturmfahnen sind knotig fest und von bleiernem lachsrosa. Männer treten sich die pudschweren Stiefel ab, speien gelbgrauen Auswurf ins frostkrachende Unterholz und fluchen dabei leise. Einer macht einen Witz, man blickt über die Schulter und lacht verhalten. Im Foyer des Hochhauses steht eine Voliere mit Buntspechten – ein Beitrag des Kulturbundes. Einige kleinformatige suprematische Bilder hängen dort und eine collagierte Wandzeitung: Deutsch-Chinesische Raketen im Weltall – Sieg über den Raum! Der Sichtbeton glänzt vom Fett der Menschenhände. Auf die Aufzüge Wartende mit spitz geschnitzten Nasen; es soll Reiskocher geben in Gomel, schwere Verluste hätten sich ereignet in den benachbarten Siedlungen Io und Europa; auch Verwandte seien gefallen im Friedenskampf. Schmutzige Pfützen, mit Koyotenfell verbrämte Anoraks aus Wolpryla, Diesel, Schweiß und gekochte Wurst.
Auf einer grauen Filzdecke zu meinen Füßen liegt ein zahmer Schneefuchs, den ich bei einem Gang im Wäldchen fand, verletzt, mit einem Projektil im hinteren linken Lauf. Er ist genügsam und wortkarg, doch wende ich mich an ihn, so zeigt er sich beschlagen, namentlich die verbotene Literatur betreffend. Seine Stimme ist sanft und er spricht ruhig zu mir, in geschliffenen Hexametern. Ich entfernte das Projektil mit einem schartigen Jagdmesser und reinigte die Wunde mit Wodka. Sein Fell ist grau, da der Schnee grau ist.
Die Kassiererin trägt resedafarbene Thermostiefel aus Kunststoff und eine Schürze, die mit stilisierten Luftschiffen und Unterseebooten bedruckt ist. Sie stempelt meinen Bezugsschein für Morphium. Als vier Millizionäre in Reitstiefeln den Konsum betreten und laut husten senkt sie den Blick. An ihrem Kinn wächst ein Leberfleck, aus dem vereinzelt schwarze und weiße Haare sprießen. Mannshohe Pyramiden aus Konservendosen: Natierka, baltischer Seefisch und Hundefleisch.
Draussen fährt ein Konvoi der Armee vorrüber und graue Transporter der Geheimpolizei. In der Nase gefriert der Atem. Die nächtlich verschneite Musikmuschel und eine Kegelbahn, übersät von zerschlagenen Wodkaflaschen.
Später erwacht er, als hätte ich mich mit eigenen Armen dorthin getragen, in schützendem Unterholz, eingemummelt in ein behaglich klammes Bett aus Moos und vergehendem Blattwerk. Vor seinem erwachenden Auge war ein recht großer Steinpilz aus dem aromatischen Waldboden geploppt, an dessen gespanntem Stiel und auch im Schutze des feuchtglänzenden Hutes sich ein weiterer, bei weitem kleinerer Pilz gleicher Rasse und von zartem braun energisch anschmiegt. Trotzdem der andere wohl einige Stunden geschlafen hatte, ist ihm nicht recht wohl; es scheint, als kröchen Wanzen unter seiner Haut. Und der Hut des Pilzes scheint ihm zu oszillieren, bald so, als würde er aus unsichtbarem Gefäss von morbidem grün übergossen, bald innerlich von brombeerfarbenen Valeurs matt durchglimmt. Auch wird er für einen Augenblick von der chimärenhaften Vorstellung eingenommen, in seinem Rücken steckte ein wie toll jaulender Schneefuchs. Ich erwache schließlich durch den Klagegesang der Sirenen. Erneut Überfliegungen durch nuklearbetriebene Schwebepanzer in höchsten Höhen. Mit der silbernen Präzision reinigenden Feuers schneiden unsere Flaktürme einige der unheilvollen Wanzen aus mattschwarzem Titan vom Firmament, die glühend, flitternden Herbstblätter gleich, hinabtaumeln, dann hinabschießen und tief im Podsolboden vergehen.
Um wieder schlafen zu können, ziehe ich mir eine weitere Ampulle Morphium auf.
19. Dezember 2009
Groß.
Mein Federkiel soll verrecken. Sie sind der Größte.
Sehr gut – ich hatte mich eben in einen mit Stechuhren aufgefüllten Granattrichter gelegt, um davon zu träumen, auf der Waldkuppe bei Vollmond die Betonsäge zu reinigen. Da kam mir diese Lektüre ziemlich recht.
da war ich mal in der nähe.