Hightatras

Krautrock

Beim Verzehr einer Laugengebäckstange lösen sich die auf der Oberfläche angebrachten Salzkristalle und springen, kompliziertesten mechanischen Gesetzmäßigkeiten folgend, in alle Himmelsrichtungen oder schnellen im hohen Bogen zwischen die Tasten des Computers und verharren dort, entziehen sich Reinigungsversuchen durch zerbröseln. Salz dringt in das Innere des Apparates ein. Man ist machtlos gegen solche Vorgänge.

Die Waffe weg brüllt einer der beiden. Im Handumdrehen liegt der Schwarzhändler am Fußboden. Ich will deine Hände sehen bellt es, in seinem geschwärzten Antlitz fahren die Augen unstet umher. Er gibt seinem Partner Feuerschutz als dieser die Handschellen anlegt. Ein Hubschrauber naht, anthrazitfarben, bedrohlich wie ein hornissenartiges Insekt wirbelt das Vehikel einigen Staub und fortgeworfene Getränkebecher auf. Man wird den Verbrecher wohl in die Mangel nehmen und dann ausfliegen. Immerhin weiß ich jetzt — anhand der Billets die entsprechend bedruckt waren — warum so viele Menschen das Trottoir verstopfen und mit ihren geparkten Automobilen das Umfeld der Sportarena verschandeln. Der Krautrocker Herbert Grönemeyer gedenkt in wenigen Minuten ein Livekonzert durchzuführen. Es stellt sich heraus, daß die Veranstaltung mit nicht unerheblicher Lärmemission verbunden ist. Schallwellen, die belästigend in meinen Gehörgang eindringen und im Gehirn als das Lied Bochum identifiziert werden, das ich kenne ohne dies zu wünschen. Der kleine dicke Künstler brüllt den ganzen Abend aus voller Kehle und springt mutmaßlich umher wie ein Derwisch oder diese erzürnten Toaströster in dem Computerspielklassiker Bubble Bobble.

Bisher positionierte ich mich nicht eindeutig bezüglich Herbert Grönemeyer, nun ist mein Urteil gewiss: Es handelt sich um Proletenmucke. Die Geräuschkulisse welche von den hier regelmäßig ausgetragenen Fußballspielen abstrahlt ist hingegen recht schön. Insbesondere das kollektive Seufzen, welches entsteht, wenn ein wadenstarker Athlet, in den die Massen einige Hoffnungen setzten, sein Ziel verfehlt. Als ich des Abends noch einen kleinen Lauf unternehme, ist bald zwei Bahnstationen entfernt das elektrisch um das x-fache verstärkte Krakeelen des scheinbar schier unermüdlichen Bardens immer noch deutlich zu vernehmen, wird hier allerdings vom Rufe eines Käuzchens überlagert, welches in der Krone einer Eiche Platz nahm und dort merklich umherschwankt, daß der Betrachter geneigt ist, anzunehmen, der scheue Waldvogel sei berauscht.
Die Dame mit der bunten Bluse betrachtet die Mitreisenden mit stillem Hass und unterhält sich fortwährend ungehalten und kontrovers mit ihren inneren Stimmen. Alle so: hat sie eine Freisprecheinrichtung, nein?, aha — alles klar. Neben ihr sitzt in sich versunken ein schmales, von Akne gezeichnetes Bürschchen auf dessen Sportmütze vom Hersteller der Schriftzug Gangbang appliziert wurde. Er verschlingt ein abgegriffenes Paperback, das den Titel Der kleine Hobbit trägt.

Die Bezirksverwaltung

Krachend flog die Tür der Bezirksverwaltung auf und der Leiter des Industriekombinats stampfte mit eisenbeschlagenen, pudschweren Stiefeln durch den Flur. Er war schon am frühen Morgen voll wie ein Eimer und schwankte mit seinem mächtigen Leib voran wie ein Panzerkreuzer im Nordmeer. An der Stirnseite des Flures hatte der Trunkene Halt gemacht und ballte seine behaarte Pranke zu einer öligen Faust um damit an die dort befindliche Türe zu donnern, das drinnen das gerahmte Bild des Vorsitzenden an der Wand klapperte. Jiri Kobel, dem dieser Raum als Büro zugewiesen worden war, hatte sich von seinem Schreibtisch erhoben, die Lesebrille neben die Wochenberichte gelegt und war seine Schläfen massierend an das kleine Fenster getreten. Schlammig und träge mündete unten die Dwina in das weiße Meer. Kobel ahnte was nun kommen würde, als es erneut und mit Nachdruck an die Türe pochte.

Die Tartarenbluse, was bisher geschah

Eine unruhige Menge erwartet vor einem Beherbungsbetrieb der gehobenen Kategorie das Erscheinen von Justin Timberlake, dessen Absteigen hier als gewiss gilt. Frenetisches Kreischen — zum Teil unter Tränen hervorgepresst — brandet unter den Verehrerinnen auf, als ein mutmaßlich den nordamerikanischen Schlagersänger bergendes Kraftfahrzeug ins Zentrum der Szenerie gleitet. Schwarz, recht glänzend und mit finster getönten Scheiben; zweifelsfrei ein Wagen mit allen Schikanen. (Fernsehapparat, Sektkühler usw) Währenddessen 6970 Kilometer weiter ostwärts: Ein Reh stemmt mürrisch seine zweckmäßigen — und im Vergleich zu anderen Säugetieren wohlgeformten — Beine in den kargen Podsolboden und beobachtet weiter unverwandt eine Gruppe Zwangsarbeiter, die in ölbefleckten und schäbigen Kitteln ihrem Tagwerk entgegenschlurfen. Eine Raffinerie südöstlich von Archangelsk. Das Rotwild hebt die Nase in den auffrischenden Nordost, wackelt wie zum Abschiedsgruße mit der Kruppe und schnürt lautlos in den nebligen Tann.

Aus technischen Gründen

Als ich gestern auf die S-Bahn wartete, wurde der Zug mit dem ich zu reisen gedachte in Sichtweite des Bahnhofes von einer Betriebsstörung heimgesucht. Der in den Aushängen der Betriebsleitung beschriebene Fall war eingetreten; die Reisenden waren aus technischen Gründen genötigt auf offener Strecke auszusteigen und wurden von Bahnpersonal sicher zum Bahnsteig geleitet, was zugegebenermaßen nicht sehr schwierig war, da der Zug ja nur höchstens zehn Meter entfernt zum Stillstand gekommen war, nachdem er den offenbar durch mutwilliges Fremdverschulden beschädigten Gleiskörper überrollt hatte. Jedenfalls wurde die Bergung der Fahrgäste ruhig und in vollendeter Professionalität durchgeführt. An der Unglücksstelle selbst war der Bahndamm von jungen Birken und zahllosen Beikräutern reichlichst bewachsen. So standen nun Polizisten, neuerdings in hellblauen Sommerhemden, Techniker der Bahn, prophylaktisch verständigte Sanitäter und eine kunterbunte Schar von Reisenden, so wie sie nur der Zufall zusammenwürfeln kann, hüfthoch im jungen Grün. Klatschohn und Kornblumen in prächtigster Blüte, die schreienden Warnwesten der Rettungskräfte, ein kleiner schwitzender Mann mit Aktentasche, schlaksige, hochaufgeschossene Ausländer deren Teint ins olivgrüne spielte, eine junge Frau nebst Hund angetan mit resedafarbenem Sommerkleid, Kinderfahrräder mit langen, behufs Verkehrssicherheit installierten Fahnen, ein Tandem, Familienväter deren Haar schütter und grau geworden war unter der Last und natürlich die Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes, welche allerdings nur Maulaffen feilhaltend Zigaretten ansteckten und sich mit groben Pranken an ihren dicken Bäuchen kratzten. Wäre ich ein Künstler, hätte mich die Szene zu einem impressionistischen Ölgemälde inspiriert, drei mal sechs Meter vielleicht. Ein sinnvoll ineinandergreifendes Uhrwerks der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Lage stets vollkommen im sicheren Griff der durchweg besonnen handelnden Durchführungsberechtigten.

Geisseln möchte ich an dieser Stelle allerdings einmal die Mitarbeiter von privaten Sicherheitsdiensten, die bekanntlich weder für Sicherheit sorgen, zudem keine verlässliche Auskunft geben können, geschweige denn Englisch sprechen. Neulich wünschte ich an einer weigehend menschenleeren Station zuzusteigen, als sich, aus der sich öffnenden Türe des Zuges, zwei uniformierte Bierbäuche in den Weg schoben. Schnurrbärtige, mit Baretten versehene Kugelköpfe schnellten hervor, hündisch den Blick irgendeines Stationsvorstehers suchend, um jenem, in schmeichlerischer Absicht den Gruß zu entbieten. Es handelt sich bei diesen Typen leider ausnahmlos um Kroppzeug, da kann man nichts machen. Ausser vielleicht in eine Zeitmaschine setzen und in die Kaiserzeit beamen. Als Parkwächter oder Bahnschrankenwärter nach Ostpreussen.

Später am Nachmittag spielte ein einsamer Zigeuner, unten auf dem Rasen vor dem Hochhaus, eine melancholische Weise auf der Ziehharmonika. Was der Straßenmusikant so nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, daß speziell an der Westseite des Wolkenkratzers eine erhebliche Thermik, also einigermaßen turbulente Winde walten. In barmherziger Laune oder aus musikalischer Neigung hinabgeschleudertes Hartgeld würde unweigerlich zum Spielball des Luftzuges werden und kilometerweit fortgetragen werden, oder jedenfall zehn Meter — mindestens. Vergleichbar übel mitgespielt wird auch den Fliegen, die zahlreich an der Fassade umhergaukeln und dann vom Winde in die Wohnungen gespült werden. Die Tiere sind nicht sehr klug, sie lassen sich auf allem was zur Verfügung steht nieder in der irrigen Annahme, es handele sich um fliegengerechte Nahrung. Ein frisch angesetzer Eimer Fliesenkleber zum Beispiel. Im Nu hat sich eine Fliege in dem reifenden Zementgemisch verfangen und rudert wie toll mit den kleinen Beinchen — wohl das erste Nahtoderlebnis ihres kurzen Lebens. Bietet man dem Kerbtier einen rettenden Spachtel zum draufkriechen an, so vergehen schließlich nur Sekunden und das Insekt paddelt erneut hilflos in einem umherstehenden Limonadenglas oder prallt mit dem kleinen Haupte aus Chitin wiederholt gegen die Fensterscheibe. Nun ja, so hat es der Herr gefügt.

Die Terroristin

Ich nahm ihre in einem Buchladen überraschend ausgesprochene Einladung zu einem Gesellschaftsspielabend — eine Art Filmquiz unter Zuhilfenahme eines DVD-Players — dankend und mit unverhohlener Vorfreude an, befestigte zu Hause eingetroffen sogleich den mir ausgehändigten gelben Selbstklebezettel mit der Adresse an der Kühlschranktüre. Mir war durchaus bewusst, daß sie eine von der Polizei händeringend gesuchte Topterroristin war, auf deren Ergreifung eine stattliche Belohnung ausgelobt worden war.

Bauschaum

Ein amorphes Haus ganz aus Bauschaum. Eher eine synthetische Tropfsteinhöhle als ein Heim, mehr entstanden als gebaut. Nach turbulenten Mustern gewachsen wie ein Hefepilz oder ein Geschwür. Grob hingesprüht um rostiges Gewebe aus Armierungseiesen. Plötzlichen Ideen folgend expressionistisch geformt mit Heißluftpistole und Flex. Als Aussenfassade schwebt mir in Beton eingelassener Verpackungsabfall vor: Scherben, alte Büchsen und stumpf gewordene Folien die im Wind knattern wie die Fahnen der Freibeuter.

Schultheiß Lounge

Diese VIP-Bereiche von Imbissen, hinten an den Rückseiten der Buden. Alles schön mit Plastikstapelstühlen und Hollywoodschaukel manchmal, oben brummt die Autobahnbrücke und die Deutschlandfahne hängt schlapp nach unten. Viele Fliegen wegen des milden Winters. Currywurst, mit oder ohne Darm, und Apfelkorn beispielsweise, es wird auch serviert. Ein agiler Türke, der auf Durchzug schaltet wenn Werner und Mike sich unterhalten. Zum hundertsten Mal die gleichen reptilienhaften Gesten. Auch Batterien, Erbsen in Dosen und Kondome im Bedarfsfall. Graugelbe Schnauzbärte und geparkte Herrenräder mit Radio am Lenker. Abends ist Tanz, einer lässt die Hose runter auf der kleinen Tanzfläche und die vom Alkohol glühenden Frauen kreischen. Ein dicker weißer Hintern, angeleuchtet von einer bunten Lichtergirlande.

Totenkopfmotive

Im übrigen ist die Sommermode der Unterschicht von einer Art dekorativem Todeskult geprägt. Kinderrucksäcke mit Totenkopfmotiven. Leichte Blusen für Bürokräfte und Hausfrauen, mit Pailletten in Totenkopfform bestickt. Man trägt das jetzt so.

Klassische Nullung

Der Herr der mich als ortskundig einstuft und sich mit einer die Orientierung betreffenden Frage an mich wendet führt an loser Leine einen Dackel, der halbherzig in die Schnürsenkel meiner Golfschuhe beißt. Er hat aber eigentlich keinen Bock auf sowas und hechelt lieber noch ein bißchen. Auf der Wange des Fragenden prangt eine Burschenschaftsnarbe, ferner verfügt dieser über einen penibel gezogenen grauen Scheitel und seine Gattin sagt Wolfgang für ihn. (Es handelte sich übrigens um einen Rauhhaardackel.) Neuerdings habe ich eine neue Narbe am Handgelenk, die aussieht wie verursacht durch einen in geistiger Umnachtung hysterisch und stümperhaft zugleich ausgeführten Selbstmordversuch mit einer zweizinkigen Gabel, wie sie bei Tisch zum Vorlegen verwendet wird. In Wirklichkeit erhielt ich einen elektrischen Schlag. Mit elektrischem Strom ist ja mitunter nicht gut Kirschen essen nebenbei bemerkt, die tückischen Drähte bissen sich in meinem Gewebe fest wie die Zähne eines bengalischen Tigers in etwa. Lediglich ein auslösender FI-Schutzschalter entriss mich schließlich den Fängen des Schnitters.

Einfach mal mitnehmen hier

Der finsterhumide Geruch der einem für gewerbliche Nutzung bestimmten Betonrohbau entströmt, kühlend für Passanten, die mit einem Getränk oder einem Imbissgericht in seinem Schatten Platz nahmen. Ein hysterischer Bewegungsmelder der über den Eingang einer barrierefreien Apotheke wacht, öffnet alle Nase lang die Schiebetüre und entlässt reinlichen Odem aus frisch gestärkten Kitteln, scharfen Reinigungsmitteln und die hundertfachen Valeurs pharmazeutischer Düfte in die schwüle Atmosphäre aus Bratfett und Erdbeeraroma. Kreischende Badegäste lassen ihre Leiber von gechlortem Wasser umspülen. Plastik, das in der Sonne langsam seine Polymerstruktur zu Ungunsten des Verbrauchers verändert. Tausend Fliegen, die beim Erscheinen des Menschen von süßlichem Aas auffliegen. Um zehn Uhr bereits über dreissig Grad, ein zweimotoriges Flugzeug als winziger gleißender Punkt an wolkenlosem Himmel. Fortgeworfene Colabüchsen und wuchernde Agaven ansonsten Staub und das Getöse der Insekten.