Hightatras

Auf hoher See

Ich ernähre mich im wesentlichen von getrocknetem Fisch, Zwieback und Äpfeln, versorge mich also leidlich selbst. Gegen einen kleinen Obolus erbitte ich mir in der oberen Kombüse gelegentlich gekochten Reis.

Selbstverständlich haben wir längst den Ärmelkanal passiert – hier schöne Blicke zu den südenglischen Kreidefelsen, die unter komplexen Wolkengetümen im Abendlichte lagen – und befahren jetzt das östliche Atlantikbecken. Die Meeresoberfläche wogt nun stärker. Nachts wenn der ohnehin auch am Tage schneidende Nordwest auffrischt, bewegt sich unser Schiff lebhaft und ich bin froh an die Reling oder mein Bullauge treten zu können um mich der Existenz einer Horizontalen zu vergewissern und aufkeimende Blümeranz niederzuringen. Die letzten Tage sind ein Elend: allweil grau und Regen und Gischt fährt einem mit Macht ins Gesicht. So trüb also, daß selbst die Konturen der gestreckten Hand zu verblassen scheinen. Auch die Seevögel sind zurückgeblieben, die das Schiff kreischend, scheinbar selten mit den Flügeln schlagend, segelnd begleiteten bis zu einem Punkt weit jenseits der Zwölf-Meilen-Zone. Hellgraue Silhouetten, die vor einem dunklen Osthimmel standen und langsam kleiner wurden – Stille dann, das Rauschen natürlich, das ewige Rauschen des Meeres.

Meine Kabine liegt auf gleicher Ebene wie die Brücke, ebenso die Kajüte des ersten und zweiten Kapitäns sowie die Messe. Trete ich vor meine Kabine, so stehe ich auf einer Art Galerie und kann über ein Geländer das Zwischendeck einsehen auf dem sich die Matrosen bewegen, leben und ihre Arbeit versehen. Die verschiedenen Decks sind, wenigstens bei Nacht, mittels abgesperrter Türen voneinander getrennt. Ich muß bei diesem Aufbau an ein Gefängnis denken, auch weil die Brücke ein Ort der Allschau ist, zur einen Seite das Meer, zur anderen Seite das Geschehen auf dem Zwischendeck – alle Gänge, Treppen, Türen.

Einmal, als draussen der Nebel allzu arg kochte, stieg ich eine der steilen, grün lackierten Metalltreppen hinab. Das stets präsente hypersonore Geräusch der Maschine drang mit mehr Detail und schärferer Modulation an mein Ohr. Mir begegneten Matrosen in bunten Trainingsanzügen, häufig mit weißen Socken und Badelatschen bekleidet, die wohl, der Aufzug legt es nahe, Freiwache hatten. Klare Augen, aber auch Augen, in denen Tücke und Stumpfsinn oszilliert. Man beachtet mich nicht, was mir ganz recht ist.

Nach Sonnenuntergang in der unteren Messe, aus schierer Neugier. Ein Getränkeautomat, Neonröhren und Matrosen, die Bacardi mit 7Up trinken. Im wesentlichen Engländer, Polen und vereinzelte Asiaten. An der Decke hängt ein Flachbildschirm, es läuft ein Erotikfilm ohne Ton. Ich sitze an einem resopalbezogenem, am Boden festgeschraubtem Tischchen, darauf englische Motorsportmagazine und zwei neuere Ausgaben des deutschen Playboy. Ich blättere ein wenig, lese ein Interview mit Karl Lagerfeld und lege das Magazin dann zurück.

Einer der Matrosen ist aufgestanden, schwankt leicht, andere stehen mit ihm auf, ein Stuhl kippt um. Da verlasse ich die untere Messe, steige die Treppen hinauf, in meine Kabine, in mein Bett und lese dort in den Tagebüchern von Stendhal.

Die Seehundbänke vor Norderney

Ich stehe achtern und es nieselt. Auf den Elbdeichen bewegen sich unscharfe Schafe im Nebel. Die Schiffsbegrüßungsanlage versieht scheppernd ihren Dienst. Eine Frau, die im frühabendlichen Nieselregen neben Einkaufswagen auf einer Bank sitzt, winkt nicht, hat vielmehr alle Extremitäten in einen verwobenen Kokon aus Decken, Pullovern und Daunenjacken gemummelt. Blankenese, schließlich das offene Meer. Meine Kabine erweist sich als einfach aber zweckmäßig und ist, ich muss mich wohl glücklich schätzen, eine Außenkabine, die, wie üblich mit einem Bullauge ausgestattet, freien Blick auf Küsten, Inseln und, so Gott will, Meeressäuger bieten wird. Ich packe meine Reisetasche aus und entnehme vor allem praktische, dem Maritimen gemäße Kleidung, also Ölzeug sowie einen entsprechenden Südwester und hänge alles ordentlich in den Spind. Diesmal habe ich an meine Schlafbrille gedacht! Die Kleiderbügel sind aus Merbau, wenn mich nicht alles täuscht, und wurden, wie das eingebrannte Signet des Hôtel La Ribaudière erkennen lässt, dortselbst aus einem Kleiderschrank entnommen. Mein Grundstock an formellerer Kleidung, ein dunkler, ein heller Anzug, nebst Hemden, Schuhen, Krawatten, Manschettenknöpfen und dergleichen können getrost in der entsprechenden Reisekiste aus Aluminium verbleiben, ebenso wie zunächst meine Bücher und die Instrumente. Es handelt sich um ein Frachtschiff, folglich wird es keine Gesellschaften geben, kein Kapitänsdinner und auch keine Kapellen oder andere kreuzfahrtrelatierte Zumutungen, die mich meiner Ruhe und Einkehr berauben und letztlich meine Studien beeinträchtigen, wenn nicht gar, wie es die Vergangenheit zeigte, gänzlich vereiteln. Über dem Auspacken ist die Nacht hereingebrochen. Die Nordsee ist ruhig, der Vollmond steht bevor. Es herrscht schwacher auflandiger Wind. Noch sind am Ufer gespenstisch erleuchtete Industriebetriebe zu erkennen (wohl Petrochemie), vereinzelt schießen Flammen empor. Später passieren wir steuerbordseits die Seehundbänke vor Norderney. Die meisten Tiere schlafen, nur eines, schließlich zwei heben träge die Köpfe, als die Lichter des Schiffes über ihre feisten Leiber streichen, die anmuten wie nachlässig arrangierte, gleichsam überdimensionierte Blutwürste auf einer kalten Platte, wie sie bei Arbeiterfesten bereitgehalten werden.

Ergreift Hausierer und werft sie den Tieren vor

Das unaufgeforderte Läuten gilt als lässliche Belästigung, ist aber tatsächlich, wenn auch in kleiner Münze, ein Angriff ohne Kriegserklärung, die den Mann, der an der Klinkenseite der Türe lebt, in jeder Hinsicht dazu berechtigt in aller Härte zu parieren. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen die Quintessenz meiner Betrachtung bereits im ersten Satz vor den Latz knalle, wie auch der Hausierende sofort in medias res gehen muss, um der Situation eine wenigstens geringe Chance auf Erfolg abzutrotzen.
Ich trug ein verschossenes Leibchen, das mit einem mehrfarbigem Aufdruck versehen ist, das den Träger, in diesem Fall mich, als Anhänger der reykjavíker Elektropopformation GusGus ausweist, ferner lediglich Boxershorts, deren hochwertig merzerisierte Gewebequalität allerdings Glied und Hoden schmeichelte – soviel zu den äußeren Umständen; in diesem Aufzug, leger bis zum äussersten also, ging die Glocke und ich öffnete, ein Highballglas in Händen haltend.
Vor der Tür zwei pomadisierte, untersetzte, verschlagene Beamtenexistenzen in erbspüreefarbenen Anoraks und mit hellbraunen Lederumhängetaschen, als seien sie von der Staatssicherheit. Der eine der beiden kämpfte, meiner angesichtig werdend, mit einem verständlichen Fluchtimpuls, der andere fächerte mit wieselhaftem Gestus ein Konvolut von Broschüren vor meinem Auge auf und preschte mit einer als Gesprächseinstieg designierten Suggestivfrage vor: Zeugen Jehovas! Der Typus des forschen Hausierers, der noch vor wieder geschlossener Türe werbliches deklamiert, wohl auch, in diesem Fall, bestärkt durch den vermeintlichen Beistand des Herrn.
Noch am gleichen Tage klingelte es erneut unerwartet: ein Vertreter für Türspione. Dieser, ein Hausierer von besonders trauriger Gestalt, dem sich das abgewiesen werden bereits tief in Physiognomie und Habitus eingeschrieben hatte. Eine Aura von hündischer Devotheit, die bei älteren Damen und Frauen im allgemeinen, wenigstens zwischen Tür und Angel, womöglich mehr fruchtet als man annehmen mag – das Mitleid. Nachdem die Türe ins Schloß gefallen war, litt ich noch Stunden später gedanklich an der schwindelerregenden Rekursivität, die der feilgehaltenen Ware innewohnt: ein Türspion um Verkäufer von Türspionen im Vorfeld zu erkennen und nicht zu öffnen.
Zwischen missionarischen oder pekuniären Motiven unterscheide ich nicht.
Mehr noch als an der Tür klingelnde, fallen Telefonanrufer mit der Tür ins Haus: menschlicher Spam, Schweine also, die in das Kleinreich eines Mannes einrücken wie Kreuzritter in heidnisches Gebiet oder die Wehrmacht in Polen. In der Rückschau lehnt eine Majorität dies ab.

Neulich musste ich im Rahmen eines informellen Essens verhalten schmunzeln, als jemand die Todesstrafe für Kindsmörder forderte und praktisch, offenbar ohne humoristische Hintergedanken, das Schafott für diesen Tätertypus vorsah. Unisono betont ruhige, wenn auch mit rechtsstaatlichem Impetus vorgebrachte Distanzierungen, erhebliches schmerzbedingtes grimassieren setzte ein und ein zügiges Umlenken des Gespräches in affirmativere Gefilde.
Werft Hausierer den Tieren zum Fraße vor, fordere ich sehr bestimmt, dann stellt sich auch nicht das Problem, das Thomas Coryate, der 1608 zu Fuß durch Europa reiste, beschrieb, daß vielerorts an Galgen und auf Rädern Gehenkte bzw. Geräderte nach Eintreten des Exitus einfach liegen- oder hängengelassen werden und folglich verwesen auf Kosten der frischen Luft. Bitte bedenken Sie, daß der Tourismus damals noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckte und der Engländer im Ausland Lateinisch sprechen musste.

Fremde in meinem Heim

Die Fenster standen offen und Schafe rupften im kniehohen Gras ihr frugales Mahl. Am gegenüberliegenden Gipfel hatte sich ein gestreckter Cumulusgupf gebildet. Wer dort ging, am Hang, an diesem Sonntag, der ging auf Preisselbeerkissen und unter einem kaiserblauen Himmel. Ich stand wohl in der Küche und tat, in Erwartung von Gästen, etwas ähnliches wie Gläser polieren, da hörte ich es dumpf und tierhaft brüllen von draussen und ein Poltern wurde vernehmlich, das auf einen Kampf hindeutete. Also trat ich vor das Haus und blickte aus dem Schutze eines Rhododendronstrauches gegen die Quelle des Lärmes: den benachbarten Dreiseithof. Eine Tür schwang jäh auf und ein Knäuel aus Fäusten wogte hervor. Von Besinnungslosigkeit und Hass geprägte Physiognomien wurden sichtbar, purpurn angelaufen und dämonisch verzerrt, daß ich an diese schauerlich gemeinten Holzmasken denken musste, die hier an bestimmten Feiertagen in Aufzügen gezeigt werden.
Guttural hervorgestoßene mundartliche Flüche hörte ich und musste das schrecklich entmenschte Hämmern von bäuerlichen Fäuste beobachten, die wieder und wieder auf gegnerische Köpfe einhieben, daß sich zwar Blut und Zahngries schmecken ließ, jedoch wider Erwarten keiner der Streithähne zu Boden ging. Plötzlich, wie ein Starenschwarm sich bald hierhin, bald dorthin massiert, ereignete sich ein Zurückwogen der Kontrahenten in das Innere des Hauses. Dort dann vernehmlich wiederholter Glasbruch sowie das dumpfe Schleifen eines offenbar schweren Leibes über die Dielen und schließlich eine Verlagerung der Kampfhandlungen gen Vorhaus. Eilig sauste ich die schön geschwungene Zirbenholzstiege des Haupthauses hinauf wie der Wind und blickte aus einem der dortigen Fenster leicht schräg auf den Vorplatz der nachbarlichen Liegenschaft herab. Wie erwartet wurde sehr bald die Haustüre mit großer Kraft aufgestoßen und ein neu konfiguriertes Knäuel aus Kämpfenden hervorgeschleudert, gleichsam auf die Straße hinauskatapultiert. Wahrlich ein Knäuel, ähnlich den Darstellungen in schlichten Cartoons, eine unscharfe Wolke aus Bewegung, kinetischer Energie und daraus hervorschnellenden Extremitäten. Auch mengte eine recht klein gewachsene grauhaarige Frau mit, die wiederholt Miene machte mittels eines Nudelholzes wuchtige, wohl vernichtend gemeinte Schläge auszuteilen, die jedoch nicht, oder nur in zu vernachlässigendem Maße die gewünschten gegnerischen Körperpartien trafen. Man beschimpfte sie eher nebenbei und so meines Erachtens besonders verächtlich als Hure.
Auf dem unteren, ostwärts gelegenen Fahrweg verstummte der Motor eines Porsche Cayenne und zwei metallene, in mattem moosgrün lackierte Türen wurden gemächlich geöffnet. Zwei Besucher erschienen. Das Beobachten des Heraufsteigens der Besucher über die Terrassentreppe aus glimmerhaltigem Schiefer seitens meiner Augen. W. in Begleitung einer jungen Frau, die mir als Kiki vorgestellt wurde und die mit mädchenhaftem Gestus einen koketten kleinen Knicks ausführte als ihr Name genannt wurde. Ich führte die Besucher in das östlichste Zimmer des Ostflügels – das Kaminzimmer. Kiki sank auf eines der Ledersofas nieder und fast noch im Sinken glitt aus einer Tasche ihres Kapuzenpullis, dessen Paspelnähte von zahllosen Waschgängen schütter und fransig geworden waren, ein schwarzes sogenanntes Smartphone in ihre schlanken Finger. W. lüpfte die Braue, schürzte seine Hose, nickte mir zu und nahm, die Beine überschlagend, am äussersten Ende des zweiten Chesterfieldsofas Platz. Auch hier standen die Fenster offen; eine Hummel schwankte träge herein und wurde von einem leichten Luftzug sanft durch ein anderes Fenster in einem anderen Raum hinausgetragen. Das Interieur war überzogen von den geometrischen Formen später Sonne, die im Raum flottierende Staubpartikel erglühen ließ wie Wolfram. Am Fuße von Kikis Sofa stand eine runde hellgrüne Korbtasche, die sich zu regen schien. Als ich dezent hineinblickte sah ich am Boden der Tasche ein Perlhuhn, das sich zusammengerollt hatte und – wohl träumend – wie konvulsiv bebend schlief. Die Riemchen der maronenfarbenen Pradasandalen, die Kiki nachlässig ausgezogen hatte und die nahe des Sofas zu Boden geglitten waren, warfen lange elliptische Schatten auf das Parkett wie das Sujet einer Photographie der zwanziger Jahre. Campari-O bitte, sagte Kiki und blickte kurz auf. Ich ging in die Küche um die jeweiligen Ingredienzien auf Eis zu schütteln; ein Collinsglas, zwei Tumbler. Da gewahrte ich am kleinen nördlichen Küchenfenster kurz eine Bewegung, das untere Drittel eines Mannes der die Straße hinaufging, ich sah schiefgelaufene schwarze Halbschuhe, einen Freizeitanzug und das Baumeln einer länglichen Tasche aus dunkelgrünem, fast schwarzem Nylon – das stark beriebene Logo von Weihrauch, die Tasche eines Jagdgewehres augenscheinlich; dann wieder das vertraute Stillleben aus verblühten Lupinen – die Schoten, die gegen Ende des Jahres oft leise im Wind klappern am Hang, den verhärmte Krüppelkiefern säumen.
Ich halte es für geboten, daß die Herrn stets solche Drinks nehmen, die auf derselben Basisspirituose beruhen, wie das von der Dame gewünschte Getränk: also Campari-O für Kiki und zwei Negronis für W. und mich. Den Negroni servierte ich mit Bombay Sapphire, krönte das Glas behufs Dekoration mit einem expressiven Gebilde aus Orangenzeste und karamellisierten Preiselbeeren, so ist er das ideale Getränk für einen warmen Oktobernachmittag. Mit einer geübten Bewegung hatte Kiki in die Korbtasche gegriffen, unter den Leib des erwachten Perlhuhnes, das nun benommen auf dem Boden zunächst taumelte, bald jedoch schritt und mit den kurzen Schwanzfedern einige Stäubchen Kaminasche verwirbelte. Ich reichte Kiki ihr Glas, sie nahm es und schlug die Augen nieder gegen das Display. Ihre Zehen waren sehr schlank, ebenmäßig und weiß, als seien sie aus Alabaster geschnitten. W. hob das Glas und trank, also trank auch ich. Kiki war in ihre Zerstreuungsmaschine versenkt und klopfte gelegentlich, wohl nervös mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand auf eine der leicht versenkt liegenden Ledernieten unweit ihrer Hüfte. Ich trug Crosstrainingschuhe von Adidas, Khakis von Yves Saint Laurent und einen zimmetbraunen Pullunder von Barbour, mit dem schon, an zwei unscheinbaren Stellen, die Motten Schindluder getrieben hatten.
W. sprach über ein mittelformatiges Waldseegemälde von Walter Leistikow, das er völlig unerwartet und schlecht reproduziert im Katalog eines Delfter Auktionshauses entdeckt und kurz darauf qua Internet ersteigert hatte und das er mir nun, sowohl das Dargestellte, als auch den Duktus der Maltechnik betreffend, minutiös beschrieb. Der Topos des Wassers, das Aufscheinen des Ophitischen in ihm. Vor einigen Jahren, W. war zu dieser Zeit an der Ostfront stationiert, habe W. Befehl erhalten hinter den feindlichen Linien eine Stellung im Gebiete des Kotal e Aq Rabat zu errichten. Im Schutze der Dunkelheit, angetan mit lediglich leichtem Marschgepäck und abgeblendeten Stirnlampen, habe er, dem Befehl gemäß begleitet von drei Kameraden, in karges Bergland aufsteigen müssen gen Bestimmungsort. Die zunehmende Höhe habe die Sinne getrübt, man meinte verschiedene Schüße gehört zu haben, die sich schließlich samt und sonders als aurale Schimären erwiesen hatten. Trocken seien die Kehlen gewesen wie Schleifpapiere und einer der W. begleitenden Soldaten habe sich auf die Knie fallen lassen und habe aus einem dünnen Rinnsal getrunken wie ein Tier. Diesem, dem Trinkenden, sei bald kalter Schweiß ausgebrochen, aschfahl sei er gewesen, so W. und er habe später über heftiges Leibreißen geklagt. Binnen zwei Wochen sei er tot gewesen, siechvoll verstorben, wie W. wiederholt betonte, siechvoll verstorben und als man den Leichnam in ein Feldspital brachte um ihn zu öffnen, seien dem jungen Obduzierenden, der gebürtiger Freiburger gewesen sei, wie W. erinnerlich gewesen war ein Dutzend junge Wasserschlangen entgegengeringelt. Verstehen sie? sagte W. und seine Hände waren in einer expressiven, nervlich aussergewöhnlich angespannten Geste des emporgespülten Leides erstarrt, siechvoll verstorben, wie der ganze Krieg dort unten, wie sich W. ausdrückte, ein einziges Siechtum gewesen sei und mutmaßlich andauernd siechvoll sei, bald noch mehr für die Lebenden in den Gräben, als für die Gefallenen, deren Siechtum ja so naturgemäß ein Ende gefunden habe mit dem gefallen sein. Ein Land auf dem kein Segen läge, sei Afghanistan. Daß das Wasser mit Schlangeneiern versetzt sei, und daß dieses versetzt sein des Wassers mit Schlangeneiern, mit Wasserschlangeneiern wie man sich denken könne, so W, nur das mildeste Indiz für dieses segenslose Siechtum sei undsoweiter. Kiki war unterdessen auf dem Boden gekauert und das Perlhuhn hatte matt an dem Zehnagel ihres linken kleinen Zehs gepickt, der von perlmuttenem Glanze war und somit das kontinuierliche Wirken eines Pedikeurs oder einer Pedikeurin mehr als wahrscheinlich werden ließ. Wie aufgrund einer augenblicklichen Kreislaufschwäche krängend erhob sich Kiki auf einmal und, kurz die Augen schließend, stapfte sie auf die Terrasse hinaus um sich dort eine Virginia Slim anzustecken und den exhalierten Rauch im Habitus einer ungenierten Frau in alle Winde auszustoßen. Das Perlhuhn war zögerlich, artgemäß hier und da pickend, mitgegangen und ruhte offenbar zu Kikis Füßen. W. und ich waren folglich alleine im Raum. Ich stand am Fenster zur Terrasse und wandte mich an W, ein Glas in Händen haltend, in dem Preisselbeeren schwammen, sie ist in mannbarem Alter, sagte ich sinngemäß, doch gebricht es ihr an gesellschaftlichem Schliff, du solltest sie auf eine Hauswirtschaftsschule schicken und in die Obhut eines guten Internats geben, das sie bildet und fein schleift in jeder Form. Internate, wie es sie in der Schweiz gibt oder, weit besser noch, in England wie du weißt. Ja, sagte W. und stellte sein Glas auf einen reich intarsierten Beistelltisch aus wilder Birne, das sollte ich wohl; ihr Betragen gibt oft Anlass zu Klagen, sie ist alles andere als gesellschaftsfähig, dabei ist sie von gutem Blute, hervorgegangen aus der Verbindung eines persischen Ingenieurs und einer exaltierten schwedischen Modedesignerin, die unter anderem für Vivienne Westwood arbeitete – aber die Erziehung, die Etikette! Seine Gesichtszüge waren hierbei geronnen, namentlich eine versteifte Oberlippe zeigte sich meinem Blicke. Kiki schob draussen mit den Füßen einen kleinen Berg aus Kieselsteinen zusammen und versuchte wohl, wie zur Illustration des Gesagten, auf den Gipfel dieses Gebildes zu speien. Ihr Kapuzenpullover war rostrot wie das Nadelwerk der Lärchen im Herbste. Über ihrer schwellenden Brust, gleichsam über ihrem jugendlichen Herzen war das sportlich geschnittene Baumwollgewand mit einem auffällig groteskem Y bestickt, einst war rechts daneben in gleicher Typographie die Zahl 3 appliziert gewesen, die jedoch – zweifelsfrei mit Bedacht und womöglich mit skalpellartig geschliffener Klinge – aufgetrennt und das so entstandene Fadengespinst spitzfingerig oder mittels einer Pinzette heraus praktiziert worden war.
Der Besuch hatte Worte des Abschieds geäußert und sich vor Behaglichkeit schnaufend in die hirschledernen Polster des stattlichen Geländewagens plumpsen lassen. Adieu also teurer väterlicher Freund, adieu Kiki, adieu auch unbekanntes Perlhuhn! Nunmehr konnte mein Geist sie nur erahnen als Lebewesen hinter schwarzem Verbundsicherheitsglas. Da erschallte das virile Aufraunen eines Ottomotors. Scheinwerfer, die in das dämonische Antlitz des Kühlergrilles eingelassen waren, erschienen und – wie es die Produktdesigner wohl vorgesehen und erhofft hatten – verblieb in mir kein Zweifel, daß dieses grimmig anmutende Fahrzeug in jegliches niederschlagsgesottene Flurstück vordringen würde, so der Wille des Lenkers es vorsähe. Als letztes dingliches Zeichen gewahrte ich einen verklausulierten Abschiedsgruß in Form eines ephemeren Blinzelns der Warnblinkanlage bevor sich das pferdestärkenreiche Gefährt wolllüstig in die zunächstliegende Kurve talwärts warf.
Das Haus lag still und plötzlich blickten die Fenster dunkel und unheimlich wie erkaltete Augenhöhlen nach dem Mahl von Aalen.
Ein letzter Nachklang des Besuches benetzte als olfaktorisches Konglomerat aus Habit Rouge und A scent zart meine an diesem Orte stets aussergewöhnlich perzeptiven Nasenschleimhäute.
Mit schwarzen Rössern gallopierte schon die Nacht und Schatten im Grünland flossen zusammen zu blauer Milch.
Bereits am Vortage hatte ich mir eine Ausziehleiter aus Aluminium bereitgestellt, wie auch eine Meuterwanne mit schwarzen Dachpfannen. Am Nebengebäude hatten Wasser und Frost mit den spitzen Mäusezähnchen der Physik an der einst trutzigen Keramik des Daches genagt. Ich stieg immer weniger bange ein ums andere mal die leichtmetallenen Sprossen hinauf, jeweils zwei Dachpfannen von Bramac in der linken Hand. Im oberen Drittel der Leiter angekommen, bot sich mir ungewöhnlicher Einblick in nachbarlichen Grund. Da hatte der Nachbar gegraben, der Gummistiefel trug, sowie einen speckerten Freizeitanzug von Le Coq Sportif und am Boden lag eine lehmige Schaufel aus dem unteren Consumersegment von Fiskars. Auch hatte der Nachbar Erlen umgeschnitten, die dort unten, wo der kleine Bach so munter springt, üppig und geil emporschießen wie ich weiß. Ein mittelgroßer Haufen Geäst lag also nestartig aufgeschlichtet und der Nachbar bemerkte mich schließlich gegen die sinkende Sonne, wie ich droben am Dache stand, kariöse Dachpfannenfragmente hinabwerfend und winkte mir freundlich zu und auch ich winkte etwas botmäßiger als angezeigt sowie meinen sicheren Stand am First preisgebend herab in den kühlen Grund an dem sich Igel und emsiges Gewürm in humosem Heim einmummeln werden, wenn der Winter kommt, oft Ende Oktober schon, doch bleibt vorerst nichts liegen weil ein Wind von Italien geht wie gesagt wird. So geht alles seinen Gang.

Aus den Reisetagebüchern

Im Bus, der vom Flughafen in die Stadt fährt, taumelte ein Mann, der in dem zügig beschleunigenden Fahrzeug ohne Sitzplatz geblieben war, fahrtbedingt umher. Vor den Fenstern floss eine vergraute Abfolge von Krüppelwalmdächern und Containerarchitektur vorüber. Unter Geräuschentwicklung legte sich das Fahrzeug in eine Kurve und der Mann, der mir bereits im Flugzeug vage bekannt vorgekommen war, erkannte letztlich die physikalische Unausweichlichkeit seiner Situation, eine Hand schnellte hervor um sich hastig anzuhalten, griff jedoch daneben, in das Kopftuch einer Muslimin, die dort von Anfang an anhaltend an einer Haltestange gestanden war, darauf beabsichtigte der Mann, wohl in einer verzeihenden und beschwichtigenden Geste, wohl ferner um mutmaßliche sprachliche Klüfte zu umschreiten, leicht seine Fingerspitzen auf ihren bemantelten Arm zu legen, doch griff, da der Bus erneut erheblich krängte, ungelenk gegen die linke Seite des Oberkörpers der nun wie versteinert stehenden Frau. Da erinnerte ich mich des Mannes Jugend, daß ich ihm einst in einem Milieu häufig begegnet war, dem Mann, der jung war, wie ich auch jung gewesen bin, faltenlos, das Haupthaar nicht schütter, sondern stark blondiert und expressiv toupiert, wie es der Mode entsprach. Auch erschien mir das Bild eines Konzertes in meinem Gehirn, wie eine Band im Lichte der Scheinwerfer spielte und der Mann, der wie ich im Zwielicht des Zuschauerraumes gestanden war, halb erzürnt, halb von Übermut befeuert ausholte und eine halbgeleerte Bierbüchse gen Bühne schleuderte, daß ich, als Teil einer kleineren Gruppe, von einem groben Schauer warmen Bieres benetzt wurde, doch da erschien ein Blueser, dem dort, am Orte der Veranstaltung offenbar gewisse Exekutivrechte oblagen und der unergründliche Reptilienaugen hatte, einen Bart, eine Matte natürlich sowie zupackende Hände – Hände, als hätte Arno Breker sie in Porphyr geschnitten, die den damals jungen Mann wort- und emotionslos am Revers seiner reichlich mit Nieten besetzten Lederjacke ergriffen und ihn, den Ergriffenen, den vormals als jungen Mann Bezeichneten, widerstandslos zu der Einschlagstelle der Büchse führten, daß er sie auflese, auch die kleine Bierpfütze, die sich gebildet hatte, aufnehme mit einem zerkrumpelten Taschentuch aus Zellstoff.

Mit den anderen Fremden ging ich in die gleiche Richtung, in einen Park eintretend, den ein Schild schließlich als den sogenannten Mirabellgarten auswies. Da saß ein Blasorchster auf Klappstühlen und führte sein Repertoire auf. Dann ließ das Orchester die Instrumente auf krachlederne Oberschenkel sinken und es erklang aus zahlreich geöffneten Mündern ein Lied, wobei einige Sänger falsch sangen und im Gesicht scharlachrot angelaufen waren, da blasen und singen und blasen und singen körperlich fordernder ist, als Außenstehende annehmen wollen, die teils wohlwollend, teils enthusiastisch Anteil nehmen am als musikalischen Klang wahrgenommenen Klang der Instrumente und der bäuerlichen Stimmbänder, dabei ist es den Aufführenden doch vor allem an einem pneumatischen Kräftemessen gelegen, so als würden Burschen einen Traktor anheben.

Ich hatte meine Sonnenbrille vergessen, war übernächtigt, litt unter Migräne und hatte mir am Bahnhof eine Flasche Mineralwasser gekauft, in der Hoffnung, diese würde mir Halt und Erfrischung geben. Von den die Salzachpromenade säumenden Kastanien schossen mit erheblicher kinetischer Energie Kastanien herab, die aufschlugen auf den Asphalt und entweder zerschellten oder in nicht vorhersehbarem Winkel gummiballartig emporgeschleudert wurden, sodass einige sogar kurzeitig in das Gestade versanken, wiederum auftauchten um sich auf eine muntere Reise gen Schwarzes Meer zu begeben. So erschließt sich die Kastanie neue Habitate, die Evolution begünstigt scheinbar die Gummiballartigkeit – wenigstens die Gummiballartigkeit der Kastanie.

Rastlos schweifte ich umher und trank Mineralwasser, bis sich schließlich Harndrang einstellte: da betrat ich ein Gebäude, in der trügerischen Annahme, daß es sich um eine Einkaufspassage handele und daß ich dort einen Abort vorfände, doch sah ich mich bald in lyncheske Gänge und schwach beleuchtete Treppenhäuser hineingezogen, setzte schließlich alles auf eine Karte und drückte den Türdrücker einer beliebigen eichenholzfurnierten Türe; doch statt der gefliesten Abgeschiedenheit eines Feuchtraumes fand ich eine Art Heilpraktikerkongress vor; Männer saßen schweigend beisammen in einem nicht gerade kleinen Saale, einige hatte den Zeigefinger seitlich an den Mund gelegt oder die Brille abgesetzt um das Ausfallende des Bügels oral einzuführen und dabei andächtig auf eine an die Wand projizierte Powerpointgrafik zu blicken. Rasch schlug ich die Tür wieder zu und huschte die Treppe hinab wie der Wind – nur hinaus! Ich schleppte mich einige Meter und nickte dann vor der Auslage eines Geschäftes ein, das Herrenhüte sowie, soweit erinnerlich, sehr schöne Kürschnerwaren feilhielt; meine Stirn sank dabei ermattet an die wohltuend kalte Scheibe. Doch schrak ich bald wieder auf, als in meinem Gehörgang Schaufel und Besen schabten, da dort die Fäkalien von Fiakerpferden zusammengekehrt wurden. Dienstbare Hände, die, meiner gewahr werdend, bass erstaunt innehielten. Wie mich da die Administration der Stadt Salzburg unverwandt ansah durch das Auge ihres geringsten Schergens, eines Fegers, weil ich nicht an den Pforten, die Sehenswürdigkeiten verschließen, fein mein Portemonnaie zücke und ein Billett löse, nicht in Gasthäuser gehe um zu verzehren und nicht mein Haupt in mit Sternen hinsichtlich Güte bezeichneten Hotels auf tausendfach beschlafene Daunenkissen bette, sondern in der Vertikale jäh erwache, sogleich schlaftrunken forttaumele und am Glase der Auslage des Hutmachers einen amorphen Fleck von Talg und kaltem Schweiß hinterlasse.

Schließlich fand ich ein Urinal, das ganz im Stile von Friedensreich Hundertwasser verfliest war und eine wieselhafte Toilettenfrau machte sich während meines Urinierens ohne Unterlass in meinem Rücken mit scharfen Sanitärreinigern zu schaffen, wohl in erster Linie um zu demonstrieren, daß, während ich müßig mein Glied in Händen halte, von ihr eine geldwerte Leistung erbracht wird.

Der tiefste Abgrund, in den ein Schriftsteller hinabgezogen werden kann, ist sicher der des Anekdotenhaften, ich bin mir dessen wohl bewusst; doch was bleibt mir um den autobiografischen Teil meines Werkes voranzutreiben, als die Dramatisierung des Banalen? Wenn mir doch nicht die Muße vergönnt ist zu Großwildjagd oder Kilimandscharobesteigung aufzubrechen, ich auch nicht an die Westfront befohlen werde – Orte und Begebenheiten also die ganz natürlich sehr sujetreich sind und die das Leben manchen Menschen auf einem silbernen Tablett präsentiert.

Walther-Schreiber-Platz

Mensch Werner, denk doch mal nach! Jetzt ein großes Ding drehen und dann den Rest des Lebens auf Highlife machen. Alaska-Frank war ans Küchenfenster der Einraumwohnung getreten und blickte hinab in den dunklen Innenhof des Hauses, dort spielten zwei bleiche Kinder mit einer defekten Landmine, in einer braunen Pfütze schwammen zerdrückte Blisterverpackungen. Werner schwieg. Er saß an einem mit Resopal bezogenem Küchentisch und hatte ein Sudokuheft parallel zur Tischkante ausgerichtet. Im Schuppen unten im Hof quiekten die Schweine. Wir spazieren da rein, nehmen die Piepen und machen die Biege, so einfach ist das! Alaska-Frank trug einen modischen Kurzmantel aus Nutriafellen, der vorne mit goldenen Spangen zusammengehalten wurde sowie eine entsprechende Mütze an der eine Kokarde millitärischer Provenienz befestigt war. Du, sieben Jahre Kittchen reichen mir, ich bin bedient hör mal, nimm den ganzen Zinnober und sieh zu, wiede Land gewinnst und zwar pronto bitte, sonst mach ich dir Beine. Werner deutete mit dem Kinn auf die zehn Büchsen Schellfisch und die kleine Flasche Rübenschnaps, die Alaska-Frank mit einer gönnerhaften Geste vor ihm aufgebaut hatte. Es war Ende November, die Wohnung war kalt. Vor den Mündern der Sprechenden hatten sich Kondenswasserwölkchen gebildet. Die Wände waren mit einer Kunststofffolie bezogen, die Delfter Kacheln vorstellen sollte. Nu mach mal halblang Mensch, man wird ja wohl noch einem alten Freund helfen dürfen. Alaska-Frank hatte sich einen Stuhl herangezogen und die Flasche geöffnet. Seine Augen waren wässerig, unergründlich und von einer schlammhaften Farbe. Jetzt trinken wir erst mal ein Gläschen – auf die Freiheit. An der schlecht verheilten Stelle an Werners Hals, wo ihm vermittels einer Kanüle und Kugelschreibertinte eine Schwalbe gestochen worden war, hatte sich ein Tropfen Eiter gebildet, der nun zögerlich hinabrann.

Eine schmutziggelbe Sonne versank irgendwo. Vor dem seit Jahren ungeputzten Küchenfenster war ein schmaler vertikaler Streifen Stadtlandschaft sichtbar, der von zwei feuchten Brandmauern flankiert wurde, die mit grünlichen Schleimalgen bewachsen waren; dazwischen Reste von abgeblätterter Werbung für Lenovo und 7Up. Orgelpfeifenartig angeordnete Metallzylinder, die der Altölverstromung dienten, aus denen fauchend und schön rhythmisiert mächtige Flammenpilze in den vergilbten Himmel schossen, gefolgt von schwarzem, öligem, sich zu blumenkohlartiger Form aufplusterndem Qualm, der die Stadt mit einem klebrig grünbraunem Rußfilm überzogen hatte. Ein Werksgelände, auf dem ausgemusterte rostige Raumtransporter in Bambus eingerüstet lagen. Arbeiter, die verlumpte, einst orangefarbene, mit Kennzahlen bedruckte Drillichanzüge trugen. Das Gleißen der Schneidbrenner im Akkord. Sirenensignal, scheppern von Lautsprechern. Reisausgabe…

Deindustrialisierter Transitraum für Panzer

Man muss den Sommer ausnutzen, diese Tage sind rar, sagt ein Mann zu einer Frau, die ein Ehepaar bilden und sich in dieser Konstellation müßig im Freiland aufhalten. Das Mienenspiel des Mannes lässt keinen Zweifel daran, daß er alle Strahlung allein zu absorbieren wünscht, bis die Sonne nurmehr ein von Antimaterie geprägter Todesstern ist.

Rechterhand liegt ein schmutzig ausgetretener Hang der zu einer ausgedehnten Sozialsiedlung ansteigt, die mit der Zeit unter einer Schicht von Moos und Algen vermoderte. Schemenhaft sind auf Gefährten herumkurvende Halbstarke zu erkennen. Sie formieren sich zu einem Symbolbild mit unklarer Aussage. Deutungsversuch: Wer von hier gegen Osten fährt, kann tausende Kilometer fahren, das Bild wird stets das gleich sein: Agrarsteppe, Krüppelkieferkonglomerate und vom Panzerkrieg verheerte Infrastruktur – Hühnerdiebe, leichte Mädchen und Rübenschnapsbrenner – Ostblock von Brandenburg bis zum Ural. Mühsam muss der kargen Scholle jede einzelne Feldfrucht abgetrotzt, gleichsam entrissen werden. Viehhaltung fällt weitgehend flach wegen der Wölfe. Aus den Sümpfen steigen schwarze Wolken von Mücken auf. Ein Güterzug hat Schmieröl und Filz geladen; die Waren wurden in einem Zwangsarbeiterlager im Wald hergestellt. Die Lage ist ruhig aber gespannt. Das Volk ist schwachsinnig und duldsam.

Was Berlin auszeichnet und von jeder beliebigen anderen im Osten gelegenen Stadt unterscheidet, ist zum Einen seine räumliche Ausdehnung und überlegene Population, vor allem sind es aber seine konzeptionellen Grundfesten, quasi seine raison d’être: Schmutz, Verbrechen und menschliche Kälte. Und dies auf hohem, auf höchstem Niveau, auf Weltniveau! Begreifen wir dies also, ähnlich wie einen eisfreien Hafen, als Standortfaktor, wie es an einem Tag, an dem Kaiserwetter herrscht, die herrliche Aussicht vom Großglockner ist, oder eine frische Atlantikbrise, die uns in Westerland überraschend ins Haar fährt, in einem sehr niedlichen Strandbistro, beim Verzehr von Windbeuteln.

Wie ich in den Bergen die unscheinbaren Steige jenseits der Baumgrenze liebe, die bestenfalls die Gemsen gehen über denen eher noch ein scheuer Greif seine Schwingen spreizt, so zieht es mich im märkischen Moloch in jene abgelegenen Straßen für deren Namensgebung selbst fränkische Kleinstädte und unbedeutende expressionistische Keramikerinnen verschwendet schienen, da hier von schorfigem Rostwasser morbid gezeichnete Kühltürme wie abstrakte Dolomiten in den Himmel ragen, einen von Feinstäuben dauerhaft bedeckten Himmel, in den sich in rascher Folge Passagierflugzeuge krängend und emissionsreich erheben. Die Reisenden tragen Schuhe aus Antilopenleder, es sind ausschließlich übergewichtige und stark transpirierende Sextouristen sowie geldgierige Rohstoffhändler, die im Urwald von ausgemergelten Negersklaven seltene Erden ausgraben lassen.

Wo dioxinlastige Klärschlämme und höchst infektiöse Krankenhausabfälle aufbereitet werden, wo hinter elektrisch geladenem Natostacheldraht, zwischen turmhoch gestapelten Unfallwagen mit blutigen Polstern tolle Hunde toben, denen gelbgrüner Speichel von den Lefzen weht, da gehe ich und trage einen tarnfarbenen, stutzerhaft geschnittenen Spencer aus Funktionsgewebe. In Gedanken ziehe ich vor den Gewerbetreibenden freundlich den Hut, die hinter zwar stark korrodierten aber gänzlich geräuschisolierten Garagentoren Gewaltpornos aufzeichnen oder Heroin mit Bleistaub veredeln und in handelsübliche Portionen auswiegen und dabei 7Up trinken. Tatsächlich sehe ich niemanden, doch folgen mir die schrittmotorgesteuerten Haifischaugen von Videokameras, die die erbeuteten Abbilder in höchster Auflösung, jeglichem Datenformat und bester Farbtiefe für alle Ewigkeit speichern. Man munkelt, es gäbe hier auch sehr dunkle und mit Giftschlämmen verschleimte Tunnelsysteme in denen fieberhaft gesuchte NS-Kriegsverbrecher, Crackjunkies und mutierte Tausendfüßler leben. Selbstverständlich sind die Eingänge mit blossem Auge nicht zu erkennen, da sie einerseits von implodierten Röhrenfernsehern und körpersaftgesottenen Altkleidersäcken verkeilt, wie auch von Knöterich und Ambrosia überwuchert recht verwunschen liegen.

Linkerhand, gleichfalls unsichtbar, da von Krüppelkiefern kaschiert, rauscht ein Autobahnkreuz und schließt eine Möglichkeit von Meer ein, als ließe sich erwartungsvoll über eine sandige Anhöhe gehen, über einen Dünenscheitel, an dem sich die Krüppelkiefern mehr und mehr lichteten und schließlich ganz verschwänden zugunsten von Strandhafer und hellem Seesand. Es gellte jäh der Ruf von Seevögeln, eine ölige Dünung schwappte träge an Land, der ferne, von Seewind verwehte Diskant einer gedungenen Kurkapelle erklänge. Pommes Frites, Softeis und mit elektromechanischen Schwänzen wedelnde Plüschhunde würden feilgehalten. Einige weiße Öltanker und schwarze Zerstörer verharrten scheinbar am Rand der Scheibe, auf Deck die jeweiligen Besatzungen, die das Fortströmen des Wassers voll wohligem Schauder mit Ferngläsern beobachteten.

Die Tochter des Trafikanten

Weltliches, wie etwa architektonische oder forstwirtschaftliche Fragen, buhlt mit aller Macht um Beachtung; so wird wenigstens ein wenig verständlich, wieso bereits die Vorstudien zu Die Tochter des Trafikanten und Zuhubenbauern, meinem designierten Opus Magnum, schleppend verlaufen, eigentlich sogar darniederliegen um es frank zu sagen.

Ich befinde mich im Kaminzimmer meines Berghofes und betrachte eine makellose Zitrone, die verblüffenderweise bereits mindestens zwei Monate alt ist, jedoch den den Zitrusfrüchten eigenen charakteristisch ätherischen, gleichfalls fruchtigen Odem des Welschlandes verströmt und von festem Fleische sowie unversehrter Hülle ist, wobei die anderen Früchte, die in dem aus gelben Kunststofffäden gewirkten Netze enthalten waren, recht bald erste untrügliche Anzeichen von Schimmel und innerer Fäule ansetzten. In dieser einen, dem Verfall trotzenden Zitrone, lässt sich das Geheimnis des ewigen Lebens vermuten. Amerikanische Wissenschaftler könnten aus ihr mutmaßlich einen hochpotenten Wirkstoff extrahieren und mit dem Wissen um seine Formel endlich die Weltherrschaft erringen. Nun wird es wohl neun Uhr durch sein, die winzigen warmweiß erleuchteten Fenster des Einödhöfes am jenseitigen Bergrücken verlöschen. Da teile ich die Methusalemzitrone und lasse die eine Hälfte ihres tadellos perlenden Saftes in ein mit Eiswürfeln angefülltes und anfänglich mit Absinth gespültes Collinsglas rinnen, füge ein gerüttelt Maß Demerararum hinzu, sowie ferner Almdudler, etwas St. Germain und zwei Tropfen Enzian der Marke Grassl; schließlich genieße ich das Getränk – dessen Glasrand sonst traditionell mit einer Zitruszeste und einem Zweiglein gefleckten Knabenkrautes (bevorzugt Dactylorhiza fuchsii) dekoriert wird – in kleinen wonnevollen Schlucken.

Wenngleich die Nächte in diesen Höhen im Juni oft noch empfindlich kalt sind (auch die Gipfel von schütterem Neuschnee bestäubt sind) und man folglich gut daran tut die Öfen zu unterhalten, ist diese Nacht mild und vor den Fenstern des Haupthauses tummeln sich über 9000 Fluginsekten, die vom Lichte angezogen Einlass begehren, so lösche ich die Leuchten im Inneren, daß alles in Finsternis gehüllt liegt und trete hinaus auf die Terrasse hinter deren Balustrade der Abgrund gähnt. Da wölbt sich am klaren Gestirn unendlich funkelnde galaktische Materie. Bald hier, bald dort stürzen Meteorite jäh herab und verglühen in den grünweißen Valeurs brennenden Kupfers. Satelliten ziehen ihrer Bestimmung eigene eliptische Bahnen und zunächst, in der Troposphäre, überqueren Passagiermaschinen plangemäß den Alpenhauptkamm gen Samarkand oder werden, wohl weit wahrscheinlicher, in Laibach landen. Aus der Kühle des Erlengebüsches beim Wildbache, wo bei Vollmond anthrazitfarbene Hirsche an das naturgemäß ungestüme Nass zum Trunke herantreten, spült die Nacht pulsierende Schwärme von Glühwürmchen (Lampyridae, hier: Lampyris noctiluca) hinauf, daß allenthalben ein Leuchten ist, daß also endlich eine vollkommene Konvergenz eintritt aus oben und unten, aus biochemisch belebtem Chitingelicht und dem schweigsamen Glanz der Galaxien, aus nah und fern, aus groß und klein.

Doch hört, da – und da, es peitschen Schüsse durch den Hochwald – – Jäger! Wie sich denken lässt, wird nun im Schein von Taschenlampen dem toten Tiere das Gekröse aus dem aufgebrochenem Leib gerissen um es fortzuwerfen und der Kadaver taucht später, in denaturierter Form auf einem gedeckten Tisch als ein Wildbret (flankiert von Preisselbeergelee) wieder auf und wird von großen Mündern, wie sie standardgemäß in pyknische Physiognomien eingelassen sind, verzehrt, verdaut und ausgeschieden – nunmehr ein Fall für die kommunale Abwasserwirtschaft. Dabei ist es für mich stets so erquicklich, das zierliche Rotwild – von erhöhter Warte etwa – zu beobachten, wie es langbeinig und mit großer Eleganz durch das amorphe Astgewirr einer Windwurffläche stolziert. Just diesen Grazien stellen auch jene Jägerinnen mit diabolischer Vorliebe nach, die mir bei meinen Gängen schon oft begegneten und bei denen es sich ausnahmslos um verwachsene, vollkommen verrohte Vetteln handelt, deren alleinige Motivation den heimischen Herd ihres Hexenhauses zu verlassen, zweifelsfrei der pathologische Hass auf die Anmut der Anderen ist. Die Jagd ist ein Ventil. Bei sich abzeichnenden innerfamiliären Konflikten setzt sich der normale Österreicher in seinen Geländewagen und erschießt im taubenetzten Tann eine Rehfamilie und kann derart geläutert (und nachdem er sich die Hände mit einer aus Rehfett hergestellten Seife gewaschen hat bis sie bluten) wieder den Seinigen gegenübertreten. Hätte der umstrittene Politiker (und Aquarellmaler) Adolf Hitler im Waidwerk seine Erfüllung gefunden, also Komplexe und Ängste die ihn bedrückten, an der Rotwildpopulation seines Heimatgaues abgearbeitet, wären dem Osten und natürlich dem deutschen Reich selbst einige der größten Widrigkeiten erspart geblieben möchte man meinen.

Herr No übt Medienkritik und befleißigt sich dabei des Stilmittels der sogenannten spitzen Feder

Einmal, an einem frühen Abend, ließ ich mich mit einem Cocktailglas, in dem zwei Oliven schwammen, auf meine behagliche Dreitausendeurocouch sinken, weltgewandte Leser werden wissen worum es sich bei dem fein moussierenden Getränk handelte, und schaltete ein Fernsehprogramm ein, selbstverständlich in einer ironischen Geste der Feierabenderschöpftheit, die ja zum schmunzeln ist, da fernsehen bekanntlich, neben telefonieren, nur in der Unterschicht so betrieben wird, als handelte es sich um eine ernstzunehmende Kulturtechnik. Jedenfalls wurde im Fernsehen gezeigt, wie die Staatengemeinschaft mit modernster Militärtechnik ein Unrechtsregime ausradiert. Daß es mit Muammar al-Gaddafi so eben nicht weiter gegangen wäre, wie gesagt wird – undsoweiter. Kann ich ad hoc nichts zu sagen, da mir die Hintergrundinfos fehlen. Ich möchte aber zu bedenken geben, daß, wenn wir, die freiheitliche Staatengemeinschaft, alle Unrechtsdiktatoren, mit Tarnkappenbombern zum Beispiel, wie im Fernsehen gezeigt wurde, gleichsam wegbomben, erst Muammar al-Gaddafi, dann Kim Jong-il, dann Hugo Chávez, uns es womöglich wie Schuppen von den Augen fallen wird, spätestens wenn wir, so wie ich, alle Jubeljahre mal den Fernseher einschalten, daß die internationale Politik um einige lebhafte Facetten ärmer geworden ist; stehen nicht Namen wie Muammar al-Gaddafi, Kim Jong-il und Hugo Chávez für die letzten großen politischen Querdenker, ja, ein Stück weit auch Paradiesvögel, die das weltpolitische Parkett mit ihrem Esprit und ihren exaltierten – wenn auch für viele zweifellos umstrittenen – Ideen letztlich doch bereicherten, im Sinne einer Pluralität der Lebensstile? Werden wir dann nicht eines Tages aufwachen (und es wird ein bitteres Erwachen sein, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel) und denken a) daß Geld nicht essbar ist (natürlich) und b) daß die lokalen ohnehin, aber auch die globalen Geschicke nurmehr von Taxifahrergesichtern wie Guido Westerwelle geleitet werden?

Was bleibt mir also, als mich auf das Phänomenologische zu konzentrieren, wenn mir Kriege in einem Fernseher präsentiert werden, alarmistisch moderiert und mit propagandistischen Absichten einhergehend zudem? Sie müssen wissen, daß mir oft vorgeworfen wurde und vorgeworfen wird, der Vorwurf hält also an, daß mein Blick auf das Design, namentlich das Produktdesign, ein unversöhnlicher, der allerunversöhnlichste, ja geradezu mäkelhafter und von elitärer Arroganz geprägter sei. Aber: mir gefallen die zum Einsatz kommenden (im Volksmund flapsig als sogenannte Tarnkappenbomber bezeichneten) Northrop B-2 Spiritbomber der amerikanischen Armee sehr. Die schöne Form! So titanisch, so unterseeisch rochenhaft auch, dem Radar verborgen – das wohl – jedoch bestimmt beeindruckende und zudem rasend schnelle (logisch, da eine Blitzkriegsituation herrscht) Schatten in rohstoffreiches oder geopolitisch relevantes Feindesland werfend, mit der emblematischen Anmutung einer Fledermaus, scheiße ja, Batman avisiert sein Erscheinen, findet euch damit ab, es ist Gotham City hier. Ich mag den expressiven Subtext, der der formvollendeten Funktion innewohnt: aviatische Leichtigkeit, die mit schwerer alttestamentarischer Endgültigkeit und ferner dem Trivialmythos des Superheldens verschmolzen wurde.

Was mir als Zuschauer und Gebührenzahler nicht gefällt, wenn im Anblick von Katastrophen, Amateurvideos angefertigt werden, die vollkommen unnötig von schlechter Qualität sind, weil die Augenzeugen keinerlei Gefühl für Bildaufbau und die einfachsten cinegrafischen Grundregeln mitbringen. Was da an Content aus Japan rüberschwappt, ist einfach nicht von klassischer Broadcastfähigkeit!

Dabei fällt mir auf, daß sich auf der Oberfläche meiner linken Hand eine Hautirritation herausgebildet hat, die von der Krone meines neuen Chronometers herrührt. Ungeachtet dessen, daß ich mit lindernder Calendulasalbe dem Mal ein ums andere mal zuleibe rückte – nutzlos – die Stelle verledert zusehends.

Das Szenario von drei Reisenden und vier Armlehnen

Kürzlich bestellte ich bei einem Internetanbieter blindlings die jüngst neu erschienenen Erzählungen des Schriftstellers Joseph Roth. Der besagte Band liegt mir nun vor und ich lese mit einiger Freude in ihm. Es ist mir jedoch schleierhaft, wie der Verlag (Kiepenheuer und Witsch) sich so entblöden konnte, die Sammlung mit einem Nachwort von André Heller abzuschließen. Das ist ähnlich bescheuert, als brächte man beispielsweise eine schöne Hölderlinausgabe heraus – mit einem Nachwort von Udo Lindenberg.

Ich fordere fortan neonfarbene Aufkleber auf den Einbänden der Neuausgaben, die anzeigen, daß der Band auch Ergüsse von André Heller, Maxim Biller, Elke Heidenreich oder irgendwelchen anderen peinlichen Punks enthält. Wenn der Verbraucher qua moralisierender Aufkleber darauf hingewiesen wird, daß Hiphopalben Lieder beinhalten, die Frauenzimmer restringiert und derb in einem despektierlichen, lediglich libidinös geprägtem Lichte darstellen, oder (ich bringe ein weiteres Beispiel:) daß eine Konfitüre von der Bitterorange in einem Hause abgefüllt wurde, in dem auch Erdnüsse verarbeitet werden, so sollte einem eigentlich bereits der gesunde Menschenverstand sagen, daß speziell André Heller unbedingt gesondert ausgewiesen werden muss. Nicht wenige von uns haben eine Andréhellerallergie!

Die Lider einer Frau entfalteten eine erhebliche Aussenwirkung, da sie ein schillernder Pigmentauftrag überzog. Sie trat durch ein Rundbogentor aus einem umfriedeten Volkspark, in dem sich Volk erging, hinein in ein Straßenland. Da erschien ein Adjektiv aus dem nichts: Skarabäenhaft! Phänomenal und unklug von der Zeichenträgerin, da sie so den Betrachter überhaupt erst auf diesen Insektentrichter stößt. Die gesamte Physiognomie ist tatsächlich ein einziges Geschiebe aus Chitinplatten, die, wenn Mienenspiel und Rede nach draussen drängen, mit unweigerlichem Schaben, an glykanhaltigen Scharnieren verankert, gegeneinander malmen. Eine Entomologenwitwe wohl, der sich das Steckenpferd des Gattens ireversibel in die Züge einschrieb.

Die Luft war lau und Krähen kreisten in Schwärmen über den Auslegern von Kränen, da ging ich schlendernd am Ufer der Spree entlang, die Hochwasser führte, blickte dann in die Auslagen der Geschäfte hinein; interessiert, ja, jedoch ohne daß meine Nase Fettschlieren hinterließ auf dem Glase. Schließlich betrat ich ein Kino, nahm Platz, wie es das Billett vorsah. Da aber kam ein adipöser Junge daher, der forsch, just in dem Momente, da ich meinen Rock von dem, von ihm pantomimisch begehrten Platze nahm, einen großen Eimer Knusperwerk und eine amerikanische Limonade auf der Armlehne zu meiner Rechten abstellte und sich selbstsicher in das derart freigewordene Polster plumpsen ließ. Auch dünstete das Bürschchen im Verlaufe der Vorstellung ein nicht geringes Quantum an käsigem Körpergeruch aus. Die Renaissance eines alten Problemes. Ich meine nicht Muff, noch meine ich, daß es speziell der Jugend an Taktgefühl gebricht, daß heutzutage Vorbilder fehlen wie Mahatma Gandhi, oder wenigstens engagierte staatliche Jugendverbände, die die Sprößlinge unter ihre Fittiche nehmen könnten, wie es die jungen Pioniere taten oder die Hitlerjugend. Nein, dies meine ich nicht, ich meine die ungleich geringere Anzahl von Armlehnen, bezogen auf die Menge der Sitzplätze. Wem einmal das Schicksal einen Mittelplatz in einem Flugzeug der Baureihe Boeing 747 zuwies, wird wohl ein Lied von diesem Phänomen singen können. Unter den Ellenbogen des Mittelmannes liegt bestenfalls ein Territorium, das in kleiner Münze eine ähnliche Brisanz birgt wie die beschissenen Golanhöhen. Drei Reisende und vier Armlehnen; Fenster- und Gangplatzsitzer entwickeln natürlich, beflügelt durch ihre vermeintliche Vormachtstellung in Form wenigstens einer sicheren Armlehne sehr bald genug Chuzpe um nonchalant auch die weitere mögliche Lehne zu erobern und zu halten – einerseits aus Dominanzgehabe und unverhohlenem Sadismus natürlich, aber auch ganz praktisch um in diesem Mikrokosmos Lebensraum zu erringen, um Flugreisen, die ja per se recht strapaziös sind, auf Kosten anderer ein Stück weit behaglicher zu gestalten. Gelegenheit und Wille zur Macht lässt Flugreisende Imperialismus und Wolfsgesetz in Reinkultur ausüben. Dabei wäre es Flugzeugdesignern, wenn sie denn wollten, ein leichtes, diese Quelle der Zwietracht versiegen zu lassen.

Selbstverständlich buche ich persönlich nie Mittelplatz und beteilige mich an der Demütigung des armen Mittelplatzwürstchens – zumeist Komplettversager, die Focus lesen und Fanta trinken – durch enervierend behindertes Lesen von möglichst voluminösen Tageszeitungen, die ich binnen Minuten, nicht selten noch vor Abheben des Flugzeuges, in ein unablässig knisterndes sowie ungemein sperriges und minütlich wachsendes, vielflächiges Papiergebilde von amorpher Form zu verwandeln pflege.