Hightatras

Normalzeit

Aus dem Dunkel des Werksgeländes läuft eine schwarzweiße Katze. Nasser Wind klebt müdes Laub in Nischen aus Beton. Spitze Schritte, im flachen Lichtkegel zögerlich. Entfernt schlägt eine Autotür. Bewegte Schatten sind zarte Schulterblätter aus Fell. Tropfend glänzt eine vergilbte Laterne im Zinkblech.

Erfasse Satelliten

In sieben Metern Entfernung versilbert der Vollmond die Fassade eines Wohnhauses dessen Lichter seit Stunden erloschen sind. Der kleine, aus flüssigem Kristall gebildete Bildschirm des Handgerätes hat chamäleongleich die Farben der Nacht angenommen. Künstliches Firmament in königsblau, veränderliche Informationen indess von lebhafter Farbigkeit. Zaghaft erscheinen, vor avanciertester Elektronik strotzende, Himmelskörper am persönlichen Horizont aus Pixeln, fahl noch und wirkungslos in ihrem spitzem Winkel zu mir. Mit ihrer Reise in mein Gesichtsfeld erstrahlen die Satelliten zunehmend in den schönsten Farben, um dann, mit dem Überschreiten meines Zenithes, erneut in Nutzlosigkeit zu verblassen. Ein kleines, schimmernd egozentrisches Weltmodell, betrieben von zwei Mignonzellen. Ändere ich meine Blickrichtung, formiert sich das Universum relativ zu mir neu. Alle Autobahnausfahrten, Hotels, ertragreiche Steinpilzstellen, Karpfenpopulationen oder Raketenstellungen der Hisbollah als digitale Peripherie meines Ichs. Jene, als Brosamen von der Tafel hungriger Herrscher gefallene Technik, straft Stillstand mit Ungenauigkeit. Entstammt sie doch rasenden Geschossen, welche mit geringster Toleranz rechnend, die Wohnhäuser und Wirkungsstätten bärtiger Krieger zentimetergenau ansteuert, um dort, zusammen mit den Feinden, in Detonation und Flammenmeer zu vergehen.

Westberlin

Heute bin ich seit Jahren mal wieder am Bahnhof Zoo ausgestiegen. Ein Bahnhof der kein Tor zur freien Welt mehr ist, hier hält nur noch die Regionalbahn. Geblieben ist ein in Frontstadtjahrzehnten abgelagertes Bahnhofsviertel, das mehr bietet als die üblichen fettigen Croissants und Krawatten mit Micky-Maus-Motiven. Eine lärmige Passage zum Beispiel, die Wände mit brauneloxiertem Aluminium verkleidet. Bumsmusik und Leuchtreklame wirbt um Kunden für das schnelle Glück. Einzelkabinen, Wettbüros, Pornokinos, Schnellimbisse, halbseidene Wechselstuben sowie mit – von Alkohol lebenden – Fossilien bevölkerte Traditionskneipen aus denen Nikotin und kalter Bulettenhauch wabert. Handretuschierte Ansichtspostkarten der Spandauer Zitadelle und des Funkturms. Unveränderter Nachdruck seit 1976. Windige Südländer treten zügigen Schrittes aus dem Dunkel und bieten zunächst pantomimisch, später zischelnd Genussgifte an. Zum langsamgehen verdammt, die zombiehaft herumwankenden Fußgänger sind schuld. Eine Besorgung schickt mich hierher, die Ware wurde in den Geschäftsräumen des Anbieters hinterlegt, man kann nicht alles bei Amazon kaufen.

Heute ein urbaner Flaneur, die linke Hand in der Hosentasche, etwas zugekniffene Augen, wider Erwarten lugt die Nachmittagssonne hinter grauer Quellbewölkung hervor, meine Unterlippe in einem leichten Anflug von Misanthropie ein wenig zusammengezogen. An der Treppe zum U-Bahnschacht lungern Rauschgiftsüchtige herum, graublauer Teint, Hände und Gesichter – in denen elfenbeinerne Augäpfel sitzen – wie geschnitzt; eine Art apokalyptische Augsburger Puppenkiste hat sich hier in einvernehmlicher Erwartung versammelt. Trotz Stahl und Glas, das siebziger Jahre Flair bleibt. Teakholzimitat mit Alu, David Bowie, der deutsche Herbst und steile Zähne. Alte Junkies die vielleicht Rocky, Werner und Fetzer heißen. Die Eingangsszene eines Filmes mit Charles Bronson, überlagert von verrauschter, orangener Helvetica-Typographie. Ein Retro-Sündenbabel, wie es abgehalfterten CDU-Bezirkspolitikern vorschwebt, wenn sie an lokale Sicherheitsdefizite denken.

Hunde im direkten Vergleich

Na ihrer hat ja einen ordentlichen Strahl, sagt eine Hundebesitzerin, die ein Hündchen an der Leine führt, erstaunt und bewundernd, als sie beobachtet, welch große Menge Urin der Hund einer weiteren, wohl vom Sehen bekannten, Hundehalterin, in Richtung Hauswand absondert. Es hat sich bereits eine stattliche Pfütze gebildet, durch die die Fahrräder fahren. Wäre die Welt ein Hundequartett, würde sie auch zu den Verlierern zählen.

Die Toteisblöcke der Mark

Dieser See ist das Produkt eines Toteisblockes lässt sich einem Hinweisschild entnehmen. Sinngemäß. 47 Millionen Jahre nach dem Abdanken der Dinosaurier, also heute vor 18 Millionen Jahren schoben sich schabend Gletscher durch die Mark. Ein hobelgleicher, rastloser Mahlstrom mit einer Zunge aus Geschiebemergel, in alle Richtungen leckend und dabei Gletschermilch ausspeiend. Mjamm, Mjamm Gesteinsbrocken aus dem Baltikum! Mitunter wurde aufgrund widriger mechanischer Einwirkungen im Laufe von Jahrmillionen, unter langgezogenem Knirschen und schrillem Bersten, ein Toteisblock fortgesprengt und vom Hauptstrom überrollt, gleichsam ins Erdreich gemalmt.

Brandenburg (Abbildung ähnlich)

Die kolossale und zugleich schneckenhaft reisende Eislawine überdeckte den versprengten, gigantischen Gletscherpartikel mit isolierend krustigen Paragneisen, ausgesinterten Basalten, Kreiden, ach – gemahlenen Mammutzähnen und abschließend einer schönen Schicht märkischen Sandes. Da lag er nun der Toteisblock, isoliert – zum Nichtstun verdammt – während andernorts Gebirge entstanden und Kontinente sich aus schier endlos währender Umarmung rissen. Plattentektonik hob hier und senkte dort, schuf überhaupt erst die geeignete Oberfläche für das napoleonische Heer oder den expandierenden Drogeriediscounter Schlecker. Die Toteisblöcke vergingen schließlich und hinterließen jeweils einen See. Die Wasseroberfläche der Gestade wird heute ihrer Anmut wegen von Ausflugsdampfern befahren. Vorzüglich bei Kaiserwetter. Mit dem Holozän kommt die Wärme und der Mensch. Eine Etage unter mir summt die Heizung – im August. Der Abend erscheint der Mietpartei frisch. Wohlige Behaglichkeit im Schlafzimmer wird zur endgültigen Bestimmung eines zu Äther gewordenen Eoraptor-Wangenknochen-Fragmentes.

Gras für 100

Zu Besuch bei P und W in ihrer komischen Reihenhaussiedlung. Westberliner Aufbauprogramm der sechziger Jahre. Tagsüber im wesentlichen Dackel, Gehhilfen und Stiefmütterchenrabatten. Nach acht ist Ruhe hier, der kleine Bus fährt nur alle zwanzig Minuten. Eine richtige Asibude – Erdgeschoß – alle Fenster mit Decken verhängt. Das größere Zimmer Wohnhöhle, nebenan Plastikeimer mit Pflanzen und gleißende UV-Lampen. P und W sitzen auf ihrer muchtigen Couch mit den vielen Brandlöchern und wiegen Gras aus. Panacea, Underground Resistance – lauter düstere Elektromucke. Der Fernseher läuft ohne Ton. Wir nehmen erst mal Platz, bißchen Geräterauchen. Also Gras für 100 und Mikros. Wir legen uns die Mikros gegenseitig auf die Zungenspitze, soviel Förmlichkeit muß sein. Zeichentrick und Bongs; P und W essen Pommes aus der Mikrowelle. Als ich mal zwischendurch in die Küche gehe um Orangensaft zu holen fällt mein Blick in den Spalt einer nachlässig zugeschobenen Küchenschublade. Eine tschechische CZ-83, 9mm in einem Frühstücksbeutel.

Hätt‘ ich ja nicht gedacht jetzt. Aber möglich ist alles, auch das Saftglas lässt sich beliebig verformen in der Hand, ganz gut eigentlich, nicht mehr so spröde. Ich trinke circa 47 Liter Orangensaft in der Kleinkriminellenküche. P und W wollen jetzt Konsole zocken. (Ob wir eine Konsole kaufen wollen, die gibts gerade, nee wollen wir nicht, also tschüß.) Zurück in unsere Siedlung mit dem Bus, unterwegs Asis und Panzeramseln wohin das Auge sieht, richtig gruselig. Egal, geschafft. Ein, zwei Bongs und Tüten vorbauen. Milchreis ist auch richtig. Später gehen wir auf die Gleise der Industriebahn, eine Art infrastruktureller Blinddarm, dahinter Zone. Stahlträger, Teile einer Brücke mit Blick über den Friedhof auf die leise funkelnden Betonzähne des Neubaugebietes. Wenn man ein wenig klettert kann man sich hier perfekt verstecken, alles im Überblick und gleichzeitig unsichtbar. (Katzengemütlichkeit.) Sitzen geht nur unter Zucken, wir rauchen die Tüten lieber im Gehen. Eine laue Nacht. Vom Forst weht nadelige Luft herüber. Bei Sonnenaufgang St.Peppers von den Beatles am Fenster, wie so Hippieasseln. Geiler Blick von hier oben. Schon immer.

Steinfliegen

Die tölpelhaft fliegenden oder flugunfähigen Insekten aus der Ordnung der Plecoptera leben in der Nähe von kalten Fließgewässern. In Ruhestellung winden sie die fahl gefärbten Glieder in ihre großen Flügel – teilweise auch zu nadelartigen Spitzen. Ihre Larvalentwicklung kann mitunter mehrere Jahre dauern und vollzieht sich aquatisch. Einige Arten (insgesamt 3000) fressen, zumeist auf wassernahen, sonnigen Steinen lagernd, einzelne angewehte Pollen, die meisten jedoch nichts. Mit dem Schlüpfen aus der Larvenhülle und dem damit einhergehenden Übergang in den terrestrischen Lebensraum, endet sowohl die Jugend als auch die Nahrungsaufnahme. Die Mundwerkzeuge der adulten Tiere verkümmern zusehends. Am Ende kehren die Weibchen zur Eiablage ins Wasser zurück und sterben anschließend. (Dem Menschen dient die Steinfliege als Indiz für eine gute Gewässerqualität.)

Wildschweine

Ich mag den Geruch von Wildschweinen (Sus scrofa). Die Tiere nehmen alle Aromen des Waldes in sich auf, eichelige, holzige, modrige, pilzige und erdige Bestandteile. Verarbeiten alles und dünsten die Essenz durch ihre borstige Haut wieder aus. Meist rieche ich Wildschweine zunächst, bevor ich sie sehe oder höre. Agile und flauschige Frischlinge, mit zunehmendem Alter werden sie kantiger und panzerhafter. Behäbige Supertanker des Unterholzes mit rezentem Einschlag.

Süchtige

Ein schweres Kind – so scheint es. Auf dem S-Bahnhof erbiete ich meine Hilfe beim hinabtragen eines Kinderwagens. Als auf dem Treppenabsatz das Gefährt aufgrund unterschiedlicher Körpergrößen der Träger ins Schlingern gerät, stellt sich heraus, daß der eigentliche Fahrgastraum mit Flaschen voller berauschender Getränke befüllt ist. Wenig später an einem anderen, jedoch nicht weit entferntem Ort.

Im Schein einer schummrigen Vortstadtlaterne lehnt ein schmales Bürschchen von vielleicht fünfzehn Jahren rastend, seitlich an seinem Zeitungswagen. Darin stapeln sich matterhorngleich der Zustellung harrende Anzeigenkäseblätter. Kindlich von Statur und Physiognomie wirkt der prekär Beschäftigte, zartester Flaum umspielt seine ausgemergelten Wangen. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und trinkt in vollen Zügen aus einer Halbliterflasche Schnaps, das Laternenlicht lässt den Branntwein in der erhobenen Flasche gülden, bernsteinhaft erglühen. Ein reales Bild voller dickenschem Pathos. Endzeithaft und zeitgenößisch elend hingegen die Schatten, die sich hinten an der Laderampe des neuen Aldis auf dem wildbewachsenen Wiesenland rumdrücken und mit Heroin handeln. Wie dämonische Glühwürmchen erglimmen die Feuerzeuge der Folienraucher im Halbschatten des Profanbaus.

hausrat.search?q=pinzette

Weiche von mir Du Satellitengürtel aus Spargelschälern, SCSI-Kabeln, Steuerunterlagen 2004 und halbvollen Shampooflaschen! Ich suche gerade eine Pinzette, wie kürzlich schon einmal, weiß nicht wo die geblieben ist. Bestimmt verschollen in einer der zahlreichen messiehaft bestückten Schubladen hier. Eine Suchmaschine für verlegte Gegenstände wäre jetzt gerade wirklich nicht schlecht. (Das ist natürlich ein ziemlich technokratischer Ansatz für ein Problem, welches sich durch ein wenig Konzentration und Training des Ultrakurzzeitgedächtnisses wesentlich einfacher lösen ließe.) Überall RFID-Chips drankleben, einweben usw. Ein Rechner, der die jeweiligen Standorte, wo ich z.B. nachlässig und in Gedanken meinen Schlüssel oder die Sonnenbrille ablege, protokolliert und zusammen mit einer ID in eine Datenbank schreibt.

So kaufe ich wohl demnächst eine neue Pinzette, und beim nächsten Umzug (demnächst?) finde ich die in der Vergangenheit Verlegten und habe dann insgesamt vielleicht drei Greifhilfswerkzeuge. (Muß also zwangsläufig drei Kinder zeugen, von denen jedes eine Pinzette erbt.) Die, trotz gefühlter Disziplin im Kaufverhalten, stetig größer werdende Wolke von Hausrat ist ohnehin ein höchst lästiger Klotz am Bein, aber dieses Wissen um nutzlose – durch menschliches Versagen verursachte – Redundanz setzt dem Klotz die deprimierende Krone auf.